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Hahn, Nikola

Hahn, Nikola

Titel: Hahn, Nikola Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Farbe von Kristall
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zeigte sich Freude in seinem blassen Gesicht. »Das ist sehr
großzügig von Ihnen, gnädige Frau. Sie bekommen es ganz bestimmt bald zurück.«
    Victoria
dachte an die Worte der Polizeiassistentin, und es beschämte sie, daß der Junge
für ein ausgeliehenes Buch dankbar war. »Lassen Sie sich ruhig Zeit. Ich habe
es so oft gelesen,
    daß ich
jede Zeile auswendig kenne.« Sie schwärzte ihre Finger mit Stempelfarbe und
rollte sie auf ein Blatt Papier.
    »Woher
wissen Sie denn, wie das geht?« fragte der Junge verblüfft.
    »Mein
Mann und ich haben schon über diese Methode diskutiert, als es sie offiziell
noch gar nicht gab. Vor vielen Jahren habe ich damit einen Mord aufgeklärt.«
    »Sie?«
    »Ja.«
Victoria gab ihm das Blatt und säuberte sich die Finger. »Wie wollen Sie eigentlich
beweisen, daß die Abdrücke meines Mannes nicht auf dem Papier sind?«
    Er
lächelte traurig. »Wir haben auch über die Methode diskutiert. Ich bat Ihren
Mann, mir seine Fingerabdrücke zur Verfügung zu stellen, damit ich ein paar
Vergleiche anstellen kann.« Er sah zu den Büchern. »Hat er Ihnen gesagt, daß
ihm jemand ein Zitat aus einer Sherlock-Holmes-Geschichte geschickt hat?«
    Victoria
schüttelte den Kopf. »In welchem Zusammenhang denn?«
    »Es war
ein anonymer Brief, und Ihr Mann hat ihn sich sehr zu Herzen genommen. Außer
dem Zitat standen noch ein paar gereimte Zeilen darin, und es klang alles
ziemlich wirr.« Er wiederholte den Wortlaut, soweit er ihn in Erinnerung hatte.
    Geister
der Toten! Deshalb hatte Richard also
danach gefragt. Victoria zeigte auf das Buch in seiner Hand. »Das Gedicht
stammt aus der Feder desselben Mannes, der Detektiv Dupin erfunden hat.«
    »Einige
Zeit vorher hat Ihr Mann schon einmal ein merkwürdiges Schreiben bekommen,
dessen Inhalt ich allerdings nicht kenne«, ergänzte Paul Heusohn. »Beide Briefe
bewahrte er in seinem Schreibtisch auf, aber als Herr Beck ihn ausräumte, waren
sie weg.«
    »Glauben
Sie, daß das etwas mit seinem Tod zu tun haben könnte?« fragte Victoria.
    Er
zuckte die Schultern. »Herr Kommissar Beck gibt mir die Akte nicht. Und die
Anhaltspunkte, die ich habe, reichen nicht, um mir ein Bild zu machen.« Er rang
mit sich, ehe er weitersprach. »Sie reichen auch nicht, den Ort zu finden, an
dem Ihr Mann starb. Sie kennen ihn, nicht wahr?«
    »Warum
wollen Sie unbedingt dorthin?«
    »Ich
sehe keinen Sinn, daß es an dieser Stelle geschah.«
    Victoria
ahnte einen Sinn, und es grauste ihr. Aber vielleicht konnte sie endlich
Abschied nehmen? Sie klingelte nach Tessa und ließ anspannen. Der Junge sprach
die ganze Fahrt über kaum ein Wort, und Victoria fragte sich, was er damit
gemeint haben mochte, daß er Richard viel verdanke. Am Sandhof, dem Städtischen
Armenhaus, ließ sie halten. »Vor zweiundzwanzig Jahren war der Sandhof eine
ausgesuchte Restauration mit einem wunderschönen Garten«, sagte sie. »Seitdem
war ich nie mehr hier.«
    Der
Junge sah sie überrascht an, sagte jedoch nichts. Victoria fand den Pfad nicht
sogleich, aber dann brauchte sie nur den Spuren zu folgen. Das Gras auf der
Lichtung stand hoch, der Teich war verlandet, die Hütte von Gestrüpp
überwuchert. Plötzlich war es ihr, als greife eine eisige Hand nach ihr.
    »Fühlen
Sie sich nicht wohl, gnädige Frau?« fragte der Junge besorgt.
    »Ich
bin das Laufen nicht gewöhnt.« Sie sah ihm an, daß er ihr nicht glaubte. Sie
querten die Lichtung und standen vor den Resten der alten Hütte. Das Dach war
eingefallen, eine Birke wuchs heraus. Die Tür fehlte, im Innern sah Victoria
das von Efeu durchwachsene Bettgestell. Paul Heusohn ging um den Verschlag
herum, betrachtete Spuren niedergetretenen Grases und zerfallene Pferdeäpfel.
Er wandte sich einem umgestürzten Baumstamm zu, suchte im Gras und starrte auf
einen fleckigen Stein.
    Victoria
ging zu ihm, und er stürzte davon. Sie hörte, wie er sich übergab. Sie kämpfte
die Tränen nieder. Hier also hatte sich Richards Leben entschieden. Was hatte
er gefühlt, was gedacht, bevor er starb? Sie schloß die Augen, doch es gelang
ihr nicht, sein Gesicht zu sehen. Ausdruckslos betrachtete sie den Baum, die
Hütte, die Wiese, den Wald.
    Der
Junge kam zurück und entschuldigte sich. »Ich bin sicher, Ihr Mann hat etwas
Wichtiges entdeckt, gnädige Frau. Und es hat mit diesem Ort zu tun!«
    »Wenn
es so ist, spricht das dafür, daß er es selbst getan hat«, sagte sie leise.
    Er nahm
den Stein und schlug ihn in sein Taschentuch ein. »Erzählen Sie mir

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