Hahn, Nikola
recht.« Er
nahm ihre Hand. »Ich möchte dir einen Vorschlag machen, und ich hoffe sehr, daß
du mir keinen Korb gibst. Daß Richard mein Geld nicht wollte, hat mir im Grunde
mehr imponiert, als daß es mich gekränkt hätte. Doch ich bin nicht mehr der
Jüngste, und mit ins Grab kann ich es nicht nehmen. Und daß alles sein Bruder
bekommt, weil er weniger Skrupel hat, sehe ich nicht ein.« Sie setzte an, etwas
zu sagen, aber er schüttelte den Kopf. »Hör mir zu, Kindchen, und überlege es
dir in Ruhe. Ich bin ja noch bis Mittwoch da.«
Am
Montag kam Flora völlig aufgelöst aus der Schule nach Hause, doch Victoria
gelang es nicht, den Grund zu erfahren. Als sie Georg Biddling dazu bat,
flüchtete ihre Tochter weinend in seine Arme. »Die Mädchen in meiner Klasse
haben gesagt, daß Papa ein feiger Selbstmörder ist, und daß er deshalb bis in
alle Ewigkeit in der Hölle schmoren muß. Das ist nicht wahr, Großpapa, oder?«
Er
konnte sie beruhigen, aber selbst ihm gelang es nicht, sie dazu zu bringen, am
nächsten Tag in die Schule zu gehen. Als er sich am Abend von ihr
verabschiedete, hörte sie nicht auf zu weinen und bettelte darum, sie und
Malvida mit nach Berlin zu nehmen. Schließlich willigte Victoria schweren
Herzens ein. Vielleicht war es tatsächlich am besten, wenn sie für einige Wochen
in eine andere Umgebung kam. Da Georg Biddling nicht länger bleiben konnte,
erbot sich seine Frau, mit Flora und dem Hund nachzukommen.
Victoria
begleitete ihren Schwiegervater am Mittwoch früh zum Bahnhof, und als der Zug
abfuhr, hatte sie das Gefühl, daß mit ihm das letzte bißchen Freude aus ihrem
Leben verschwand.
Am
Donnerstag packte Victoria mit Louise Floras Sachen zusammen, als ihr Tessa
Besuch meldete. »Ein Herr Paul Heusohn wünscht Sie zu sprechen, gnädige Frau.
Er behauptet, daß er mit Ihrem Mann zusammengearbeitet hat und Ihnen etwas
Wichtiges sagen muß.«
Victoria
nickte. »Ich erwarte ihn im Salon.«
Der Junge
sah dünner aus, als Victoria ihn in Erinnerung
hatte.
Verlegen gab er ihr die Hand. »Bitte verzeihen Sie, daß ich Sie belästige,
gnädige Frau.«
Victoria
lächelte. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie geholfen haben, meine Tochter
wiederzufinden.« Sie zeigte auf einen Sessel. »Was kann ich für Sie tun?«
Zögernd
nahm er Platz. »Ich hoffe, Sie halten mich nicht für anmaßend, gnädige Frau.
Ich bin überzeugt, daß Ihr Mann sich nicht erschossen hat.«
»Wie
kommen Sie darauf?« fragte Victoria überrascht.
»Ich
verdanke Ihrem Mann sehr viel. Er ist nicht der Mensch, der sich umbringt!«
Victoria
wußte, daß sie ihn verletzen würde, aber sie war ihm Ehrlichkeit schuldig. »Er
hat es schon einmal versucht. Vor vielen Jahren. Und sein leiblicher Vater
starb genau wie er.«
Es
dauerte eine Weile, bis er sich gefaßt hatte. »Ich glaube es trotzdem nicht!«
Er sah auf seine Hände. »Er hat mir gesagt, daß das keine Lösung ist. Und daß
ihm einmal jemand zur rechten Zeit sagen mußte, daß das Leben es wert sei, dafür
zu kämpfen. Und das war nicht nur so dahergesagt.«
Plötzlich
stand das längst vergessene Bild vor ihren Augen, der muffige Keller, sein
zerschlagenes Gesicht, ihre Wut, die ihn ins Leben zurückgeholt hatte. Sie ging
zum Fenster und sah hinaus.
»Es ist
nicht richtig, wie die Leute über ihn reden«, sagte der Junge leise.
Victoria
drehte sich zu ihm um. »Er hat mir einen Abschiedsbrief hinterlassen.«
»Ich
weiß. Deshalb bin ich hier. Erinnern Sie sich an den Prozeß gegen Stafforst
und Groß und die Ausführungen von Dr. Popp? Wenn sich Ihr Mann nicht umgebracht
hat, hat er auch diesen Brief nicht geschrieben! Und dann sind seine Fingerabdrücke
nicht darauf, aber die des Mörders! Dr. Popp kann das feststellen. Bitte
überlassen Sie mir den Brief.«
»Nein!«
Der
Junge sah erschrocken aus. »Ich verspreche Ihnen, daß Sie ihn so schnell wie
möglich zurückerhalten, und daß niemand ihn zu Gesicht bekommt, außer Dr. Popp.
Bitte, gnädige Frau. Es wäre sehr wichtig!«
Sie
konnte es nicht. Nicht diese Worte. Nicht dieser Brief. Stumm schüttelte sie
den Kopf.
*
Beck
war machtlos gegen das Verlangen, das ihn quälte, diese schmerzliche Sehnsucht,
die er überwunden glaubte. Er vergrub sich in seiner Arbeit, versuchte, zu
verdrängen, zu vergessen. Es gelang ihm nicht. Seine Hände zitterten, wenn er
daran dachte, sie anzusprechen. Dabei hatte es überhaupt keinen Sinn. Die
Erinnerung an seine Schande trieb ihm den Schweiß auf die
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