Hahn, Nikola
Victoria.
»Was
macht Sie denn so sicher?«
»Er
würde nicht gehen... ohne ein Wort.«
Polizeirat
Franck holte ein Kuvert aus seinem Schreibtisch. »Das ist seine letzte
Nachricht an Sie.«
Mit
klopfendem Herzen nahm Victoria den Umschlag entgegen, auf dem maschinenschriftlich Für Victoria stand. »Woher haben Sie das?«
»Wachtmeister
Braun fand den Brief am vergangenen Freitag im Schreibtisch Ihres Mannes.«
»Aber
das ist unmöglich! Er hat mir gesagt
»Herr
Braun glaubte offenbar, er müsse Sie schützen.«
»Wovor?«
Er
zuckte mit den Schultern. »Herr Braun war nicht bereit, eine Erklärung
abzugeben. Wenn Sie die Nachricht lesen, können Sie sich hoffentlich den
passenden Reim darauf machen. Aufgrund der Umstände nehme ich an, daß es sich
um eine private Problematik handelt.«
»Seit
wann wissen Sie von dem Brief?« fragte Victoria tonlos.
»Herr
Braun gab ihn mir am Dienstag, wenn auch nicht ganz freiwillig. Wir waren
allerdings vorher schon überzeugt, daß es ein Selbstmord war.«
»Ich
danke Ihnen für Ihre Offenheit, Herr Polizeirat.«
Er
küßte ihr die Hand. »Es tut mir leid, daß der Anlaß unseres Gesprächs nicht
erfreulicher war, gnädige Frau.«
Sie
nickte und ging. Ihre Hände zitterten, als sie im Wagen den Bogen aus dem
Umschlag nahm.
Victoria!
Mir
bleibt kein anderer Ausweg mehr. Es ist vor allem auch
Deine
Schuld. Bezahlen mußt Du jetzt selbst.
Richard
Es
dauerte bis zum nächsten Tag, bevor sie in der Lage war, ins Rapunzelgäßchen zu
fahren. Heiner Braun öffnete ihr die Tür.
Sie
hielt ihm wortlos den Brief hin, und sein Gesicht wurde starr. »Bitte, kommen
Sie herein.«
Sie
schüttelte den Kopf. »Sie haben es zugelassen, daß ich die Abschiedsworte
meines Mannes als allerletzte und von seinem Vorgesetzten erfahre!«
»Hören Sie
mich an«, sagte er leise. »Bitte, Victoria.«
»Sie
haben schon gewußt, daß er sich umgebracht hat, als ich nicht mal wußte, daß er
tot ist.« Sie konnte nicht verhindern, daß ihr die Tränen übers Gesicht liefen.
»Und Ihnen habe ich vertraut.«
»Lassen
Sie mich erklären...»
»Eine
Erklärung hätte ich mir zur rechten Zeit gewünscht. Die rechte Zeit ist
vorüber.« Er wollte etwas sagen, aber sie drehte sich um und ging.
Es war
später Nachmittag, als Laura von der Arbeit nach Hause kam. Heiner saß am Fenster
in der Stube, ein Buch auf dem Schoß. Sein Gesicht war so grau, daß es ihr weh
tat. »Sie sollten ein bißchen an die frische Luft gehen, Herr Braun.«
»Ach
was. Es reicht mir, das Wetter von hier drinnen zu sehen.«
Laura
zeigte auf das Buch. »Was studieren Sie Schönes?«
»Ein
Gedicht von Friedrich Stoltze.«
»Etwas
Heiteres tut Ihnen sicher gut.«
»Auch
heitere Gemüter sind nicht immer froh.«
Laura
las die aufgeschlagene Seite.
»Er
schrieb es nach dem Tode seines Sohnes. Er wurde nur achtzehn Jahre alt.«
Sie
klappte das Buch zu. »Wollen Sie mir nicht endlich mal das Geburtshaus von
diesem Stoltze zeigen, bevor es abgerissen wird?«
Er sah
aus dem Fenster. »Ja. Die Menschen sterben und die Häuser.«
»Ist
Ihnen aufgefallen, daß es immer lauter wird bei Ihnen? Die Laren ziehen
offenbar alle ins Rapunzelgäßchen.«
Es
freute sie, daß er lächelte. Aber es hielt nicht lange vor. »Sie hatten recht.
Victoria
»Sie
haben nur das Beste gewollt. Wenn sie das nicht begreift, ist ihr nicht zu
helfen!«
»Die
Wahrheit war immer das, was ihr am wichtigsten war. Wissen Sie, als ich sie vor
vielen Jahren kennenlernte
Laura
holte seine Jacke. »Die Geschichte können Sie mir genausogut bei einem kleinen
Spaziergang erzählen, oder?«
Das
Wochenende war heiß und sonnig. Auf der Straße lachten die Menschen, für
Victoria schien die Sonne grau. Heiner Braun versuchte mehrfach, sie zu
sprechen, doch sie weigerte sich, ihn zu empfangen. Wieder und wieder las sie
Richards Brief. Auf wen oder was bezog er sich? Hundert Dinge fielen ihr ein,
Auseinandersetzungen, die sie gehabt hatten, kleine und große Streitereien. War
es ihre Freundschaft zu Hopf, die ihn so verletzt hatte? Oder daß sie ihm nicht
geglaubt hatte, was Martin Heynel anging? Oder daß Vicki nicht mehr mit ihm sprechen
wollte? Daß er geahnt hatte, wie krank er war? Aber er war nicht von selbst
gegangen, sondern erst, nachdem er die Nachricht bekommen hatte! Mußte also
nicht in diesen Worten die Ursache zu suchen sein? Weh dem, der zu der
Wahrheit geht durch Schuld. Wessen Schuld? Seine? Ihre? Warum hatte er
seinem Leben
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