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Hahn, Nikola

Hahn, Nikola

Titel: Hahn, Nikola Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Farbe von Kristall
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die
Geschichte?«
    »Sie
ist so alt, daß ich glaubte, sie würde niemals mehr eine Rolle in meinem Leben
spielen. Genauso wie ich hoffte, diesen Ort nie mehr betreten zu müssen.« Sie
sah zu der Hütte. »Vor zweiundzwanzig Jahren starb hier mein Cousin Eduard. Man
hielt ihn für einen Mörder.«
    »Ihr
Mann hat gegen ihn ermittelt?«
    »Ja,
aber ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum Richard nach so vielen Jahren
...« Sie zog ein Taschentuch hervor und fuhr sich übers Gesicht.
    Der Junge
berührte ihren Arm. »Ich werde die Wahrheit herausfinden, Frau Biddling.«
Victoria nickte. Sie wünschte sich, sie könnte die gleiche Zuversicht haben.
    Es
dämmerte schon, als sie in den Untermainkai zurückkamen. Victoria bat Paul
Heusohn noch einmal in die Bibliothek. Der Karton mit Richards Sachen stand
neben ihrem Schreibtisch. Sie nahm den Federkasten heraus und gab ihn dem Jungen.
»Ich möchte, daß Sie das für Richard in Ehren halten.«
    Er
öffnete den Kasten, betrachtete den feingeschliffenen Füllfederhalter. »Das
kann ich nicht annehmen, gnädige Frau!«
    Sie
lächelte. »Sie würden mir eine große Freude machen, Paul. Und Richard ganz
gewiß auch.«
    Andächtig
berührte er die goldplattierten Beschläge und die ziselierte Feder. »Danke.«
Als er ihr die Hand gab, glänzten Tränen in seinen Augen.
    Nach
einer schlaflosen Nacht stand Victoria früh auf. Die Vögel stimmten ein Konzert
an, als wollten sie die Sonne über den Horizont singen. Der Kutscher wartete
vor der Tür und gähnte verstohlen.
    »Zum Friedhof«,
sagte Victoria.

Das
Hauptportal war noch geschlossen. Sie ging durch den Seiteneingang, den sie bei
Lichtensteins Beerdigung benutzt hatte. Die Bäume waren Schattenwesen, die Wege
dunkle Bänder in dem Garten aus Stein.
    Er
stand vor Richards Grab, den Kopf gesenkt. Victoria schämte sich für ihre
unbedachten Worte und wollte zu ihm gehen, aber was sie sah, war so
erschütternd, daß sie keinen Schritt tun konnte.
    Heiner
Braun brach in die Knie und weinte.
     
    Kapitel
22
     
    Abendblatt                                                    
    Samstag, 2. Juli 1904
    Frankfurter
Zeitung und Handelsblatt
     
    Ferien.
Auf dem Hauptbahnhof ging es heute ungemein lebhaft her. Die Züge waren
sämtlich überfüllt. Es war keine leichte Aufgabe für die Beamten, die genügende
Anzahl Wagen zur Beförderung der nach Tausenden zählenden Reisenden
herbeizuschaffen. Aber der Verkehrsapparat klappte vorzüglich. Die Ferien
haben gut begonnen: Wetter großartig! Wir wünschen allen, die der Erholung bedürfen,
daß sie es besser haben wie im vorigen Jahr, wo es bekanntlich während der
sogenannten Reisemonate viel Regen
    Groß
und Stafforst. Aus Leipzig wird uns
telegraphisch gemeldet, daß die Revision der wegen Raubmords zum Tode verurteilten
Bruno Groß und Friedrich Stafforst vom Reichsgericht verworfen worden ist.
     
    Billige
Schreibmaschinen
    l Favorit ................. Ml60-
    1 Underwood, Mod. 2    M350.-
    3 Grandall, per Stück á
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    Gefl.
Anfragen unt.FEM 729 an die Annoncen-Expedition Rudolf Mosse, Frankfurt a. M.
     
    V ictoria stand inmitten fröhlicher Menschen auf dem Perron und
winkte dem Zug nach, mit dem Margarethe Biddling und Flora abreisten. In ihrem
Kopf schlugen die Gedanken Kapriolen, daß es weh tat. Ihren Töchtern hatte sie
ein freies Leben ermöglichen wollen, und die eine zog es vor, zu ihren
Großeltern zu flüchten, die andere verkroch sich in ihr imaginäres
Schneckenhaus. Ihr Vater, dem sie seit Jahren das Haus führte, hatte keine
anderen Sorgen, als um seinen guten Ruf zu bangen, ihr Bruder suchte sein Heil in
der Flasche, ihre Schwester regte sich über die Etikette auf, Karl Hopf hatte
nicht einmal kondoliert. Und einen Menschen, der ihr Trost und Hilfe gegeben
hatte, stieß sie derart vor den Kopf, daß er aus Verzweiflung weinte!
    Die
Polizeiassistentin hatte recht: Sie hatte sich lange genug selbst bemitleidet.
Entschlossenen Schrittes verließ Victoria den Bahnhof und befahl dem Kutscher,
sie zum Rapunzelgäßchen zu bringen. Doch als sie vor Heiner Brauns Häuschen
stand, wäre sie am liebsten umgekehrt. Sicher wäre es ihm unangenehm, wenn er
wüßte, daß sie ihn am Morgen auf dem Friedhof gesehen hatte. Was sollte sie
ihm sagen? Sie konnte doch nicht mit einer banalen Entschuldigung zur
Tagesordnung übergehen! Und was war mit Helena? Ihr Herz klopfte, als sie an
der

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