Hahn, Nikola
ausgerechnet an der Hütte ein Ende gesetzt? Hatte sein Tod am Ende
etwas mit Eduards Tod zu tun? Aber das war so unendlich lange her! Was hatte
sie ihm angetan, daß er sie mit dieser Ungewißheit zurückließ? Nicht einmal
persönlich unterschrieben hatte er. Es gab Momente, in denen sie ihn dafür
haßte.
Sonntag
nacht hielt sie es nicht mehr aus. Sie stand auf und verließ das Haus. Die
Straße war leer, am Himmel leuchteten Sterne. Die Treppe ins Nizza glänzte matt
im Schein einer Laterne. Neben der kleinen Wandelhalle mit dem Brunnen stand
eine Bank. Hatte er hier gesessen und gewartet? Welche Antwort hatte er so
sehr ersehnt, daß er sein Versprechen gegenüber Flora brach? Sie wandte sich
ab, ging zum Ufer, starrte ins
Wasser.
Nur ein kleiner Schritt, und sie könnte für immer bei ihm sein.
»Das
laß mal hübsch bleiben, Kindchen«, sagte Georg Biddling in ihrem Rücken.
Sie
fuhr herum. Er lächelte. »Oder soll ich mir auf meine alten Tage eine
Lungenentzündung holen, weil ich dich aus dem Main fischen muß?«
»Du
kannst doch gar nicht schwimmen, Georg«, sagte sie mit Tränen in den Augen.
»Na,
dann hoffe ich, daß du nicht auch noch für meinen Ertrinkungstod verantwortlich
sein willst.« Er nahm sie an der Hand wie ein kleines Mädchen. »Jetzt kommst du
hübsch mit nach Hause und erzählst mir, was man dir am Freitag Schreckliches
im Polizeipräsidium gesagt hat. Und warum du so wütend auf diesen netten Herrn
Braun bist.«
Georg
Biddling sah Victoria kopfschüttelnd an, als er den Brief gelesen hatte. »Wenn
meinem Sohn in seiner letzten Stunde nicht mehr eingefallen ist, müßte ich
meine Meinung über ihn doch korrigieren. Wo hat man den Wisch gefunden?«
»Richards
Vorgesetzter sagte mir, daß der Brief in seinem Schreibtisch lag.«
»In seinem Schreibtisch?« polterte Georg. »Das wird ja immer schöner!
Du kanntest Richard besser als ich, aber ich würde trotzdem behaupten, daß er
den wichtigsten Brief seines Lebens erstens mit einem Datum, zweitens mit
einer eigenhändigen Unterschrift versehen und ihn drittens ganz bestimmt nicht
zwischen einem Stapel Akten verstecken würde!« Er sah Victorias verwirrte
Miene und lächelte. »Kindchen, den Preußen kann man vieles vorwerfen, aber
sicher nicht, daß sie die Form nicht zu wahren wüßten.« Verächtlich warf er den
Brief auf den Tisch. »Und das da wahrt überhaupt nichts.«
»Du
glaubst, er hat das nicht geschrieben?«
Er
zuckte die Schultern. »Margarethe hat mir den Abschiedsbrief von Richards
Vater gezeigt. Friedrich Dickert hat sogar verfügt, was mit seiner Pfeife
geschehen sollte. Wenn du meine
Meinung
wissen willst: Hör dir an, was Herr Braun zu sagen hat. Er war es doch, der den
Brief gefunden hat?«
Victorias
Miene wurde starr. »Er hat es abgestritten! Ich habe ihn um die Wahrheit
gebeten, und er hat mich schändlich belogen.«
»Hast
du dir mal überlegt, warum er das getan haben könnte?«
»Er hat
es getan. Allein das zählt.«
»Du
hast Vicki auch nicht die Wahrheit gesagt.«
»Das
ist etwas ganz anderes! Sie war ein Kind, und... Ich muß mich dafür nicht
rechtfertigen.«
»Das
sollst du gar nicht. So hart es für dich klingen mag: Richard ist tot, und du
mußt anfangen, wieder ein bißchen zu leben.«
Sie
nickte unter Tränen. »Ich versuche es ja, Georg. Schon wegen der Kinder.
Aber... Warum dieser Brief? Warum?«
Er
streichelte ihre Wange. »Soll ich dir sagen, was ich glaube? Richard hat das
irgendwann früher geschrieben. Nach einem Disput vielleicht? Aber ganz gleich,
wann und wie dieses Pamphlet zustande gekommen ist: Es umreißt einen Augenblick,
in dem dein Mann in einer außergewöhnlichen Situation war und nicht klar denken
konnte. Stell es dir vor wie bei einem Ehestreit. Da fallen böse Worte, und
hinterher schämt man sich, daß man einem Menschen, den man gern hat, häßliche
Dinge gesagt hat. Aber an der Liebe zueinander ändert's nichts, ja, sie wird
vielleicht sogar noch inniger.«
Sie
lehnte sich an seine Schulter. »Ich wünschte, du könntest ein wenig länger
bleiben.«
»In
einer Woche beginnen die großen Ferien. Ich lade dich und deine Töchter
herzlich zu uns ein.«
»Ich
kann jetzt nicht gehen, Georg. Außerdem würde Vicki nicht mitfahren. Und Flora
möchte ich nicht allein weglassen.«
»Du
weißt, daß sie gern nach Berlin kommen würde?«
Victoria
nickte. »Sie hängt sehr an dir.«
»Florchen
sucht verzweifelt einen Ersatz für ihren Vater. Und ich kam gerade
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