Hahn, Nikola
rostigen Klingel zog, und sie war erleichtert, daß Laura Rothe öffnete.
»Schön,
daß Sie da sind«, sagte sie und half ihr aus dem Mantel. »Herr Braun ist in
der Stube.«
Victoria
bat die Polizeiassistentin, mitzukommen. Heiner saß auf dem Sofa. Er hatte die
Zeitung vor sich liegen, aber er las nicht darin. »Victoria!« sagte er
überrascht und stand auf. »Wie geht es Ihnen?«
»Besser.«
Sie forschte in seinem Gesicht. »Und Ihnen?«
Er
rückte ihnen die Sessel zurecht. »Unkraut vergeht nicht, hm?«
Victoria
setzte sich. »Paul Heusohn war gestern bei mir. Er ist sich sicher, daß
Richards Tod kein Selbstmord war.« Sie erzählte, was der Junge gesagt hatte
und daß sie zusammen im Stadtwald gewesen waren. »Sollte es ihm tatsächlich
gelingen, nachzuweisen, daß Richards Fingerabdrücke nicht auf dem Brief sind,
wäre das der Beweis.« Sie sah Heiner an. »Es tut mir sehr leid, daß ich...»
»Schon
gut«, sagte er freundlich. »Es mag unlogisch klingen, aber als ich den Brief
fand, wußte ich, daß Ihr Mann in Schwierigkeiten ist und war zugleich
überzeugt: Selbst wenn das seine Gedanken waren, er hätte sie anders
formuliert.«
»So
ähnlich hat es mein Schwiegervater auch ausgedrückt«, sagte Victoria. »Er wurde
richtig ungehalten, als er den Brief las.« Sie wiederholte Georg Biddlings
Worte.
Heiner
lächelte. »Ja. Ihr Mann war ein sehr korrekter Mensch. In jeder Beziehung.«
Victoria
sah auf ihre Hände. »Ich möchte wissen, welchen Sinn dieses Schreiben hat. Ganz
gleich, was das für mich bedeutet.«
»Paul
glaubt nicht, daß Ihr Mann den Brief verfaßt hat, Ihr Schwiegervater glaubt es
nicht, ich nicht und Sie im Grunde auch nicht«, sagte Heiner. »Also sollten wir
als erstes danach fragen, wer sonst es getan haben könnte.«
»Nach
dem, was ich über den Tatort und den Autopsiebefund weiß, ging ich bisher von
Selbstmord aus«, schaltete sich Laura ein. »Aber vielleicht ist ein Mord ja
tatsächlich nicht ausgeschlossen? Für eine vernünftige Beurteilung müßte man
allerdings die Akte einsehen.«
»Paul
Heusohn sagte mir, daß Kommissar Beck alles unter Verschluß hält«, erklärte
Victoria. Sie wandte sich an Heiner. »Mein Schwiegervater meinte, Richard
könnte den Brief irgendwann, vielleicht aus Ärger über einen Streit mit mir,
geschrieben und dann vergessen haben.«
»Das
ist möglich, aber unwahrscheinlich«, entgegnete er. »Es gibt nämlich einen
weiteren Grund, warum ich an der Authentizität dieses Schreibens zweifle: Ihr
Mann schätzte unsere Underwood, aber bedient hat er sie nur, wenn es
sich nicht vermeiden ließ, und er war herzlich ungeschickt dabei. Aufgrund der
Fehlstellung des kleinen i können wir aber sicher sein, daß der Brief auf der
Schreibmaschine im Büro Ihres Mannes und nicht irgendwo sonst verfaßt wurde.
Die Todeszeit wird in den Morgenstunden des 17. Juni angenommen. Ihr Mann war
an diesem Tag laut Zeugenaussagen nicht im Präsidium. Soweit mir bekannt ist,
hat er sein Büro an den Abenden zuvor mit Paul Heusohn zusammen verlassen. Wann
sollte er also den Brief geschrieben haben?«
»Die
Frage stellt sich für jede andere Person genauso«, gab Laura zu bedenken.
»Es
kann durchaus sein, daß der Brief früher geschrieben wurde und irgendwer
beauftragt wurde, ihn in der Zeit zwischen Donnerstag abend und Freitag
frühmorgens in den Schreibtisch zu legen«, überlegte Heiner. »Allerdings bleibt
die Tatsache, daß derjenige, der ihn verfaßt hat, nicht nur unbemerkt ins
Präsidium gekommen ist, sondern auch gewußt haben muß, wo der Kommissar seinen
Büroschlüssel aufbewahrte. Das sind für einen Fremden schwer zu überwindende
Hürden.«
»Wollen
Sie damit andeuten, daß einer seiner eigenen Kollegen etwas damit zu tun haben
könnte?« fragte Laura fassungslos.
»Es
sieht danach aus, ja. Ich bin mir nur nicht sicher, in welcher Art.«
Laura
strich sich nervös die Haare aus der Stirn. »An wen denken Sie?«
Er
zuckte die Schultern. »Im Moment ist es nicht viel mehr als eine Hypothese.«
»Die
Person wußte auch, daß Richard an diesem Tag mit mir und den Kindern zur
Saalburg fahren wollte«, sagte Victoria. »Sonst hätte man ja diese Nachricht nicht
zu uns nach Hause geschickt. Zumindest nicht um diese Uhrzeit.«
»Daß
Ihr Mann frei hatte, war im Präsidium allgemein bekannt«, warf Heiner ein.
»Für wesentlicher halte ich den Inhalt der Nachricht: Einmal mehr ein
Literaturzitat.«
»Was
meinen Sie damit?« fragte Victoria.
»In
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