Hahn, Nikola
derer,
die im Leben vor dir gestanden, ganz gelind nun wieder um dich -und ihr Wille
umschattet dich: darum sei stille.
Vergeuden
Sie nicht Ihre Zeit damit, daß Sie nach Rachel suchen, wenn das richtige Wort
Rache heißt.
Rache für
die Toten. War es das? Eine in Blut geschriebene Botschaft, die nicht Name,
sondern Zeichen war? Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld. Sie
dachte an die Gräber, und wie oft sie davor gestanden und sich gefragt hatte,
was gewesen wäre, wenn sie nicht zur falschen Zeit die falschen Worte gesagt
hätte. Aber warum hatte Richard diese Briefe bekommen und nicht sie? Und warum
nach so vielen Jahren?
Der
nächste Umschlag enthielt zwei Photographien. Obwohl Heiner Braun sie darauf vorbereitet
hatte, war der Anblick ein Schock: Ihr Bruder und ein unbekannter Jüngling in
eindeutiger Pose auf dem Siege d'amour. Wußte David, daß Richard diese
Bilder besaß? Hatte er Angst gehabt, er würde nicht schweigen? Victoria wagte
nicht, weiterzudenken. Ihre Hände zitterten, als sie den dicken Umschlag
öffnete. Aber anstatt weiterer Informationen über ihren Bruder hielt sie die
Abschrift eines Brandberichts in der Hand. Sie stutzte. Das war doch die Hütte
bei Hopfs Haus in Niederhöchstadt! Sie blätterte die restlichen Unterlagen
durch: Vernehmungen und Berichte zum Tod von Hopfs Frau Josefa, Befragungen von
Nachbarn, die Schilderung eines Arztes. Das, was Heiner Braun in seinem Gespräch
angedeutet hatte, fand sie hier schwarz auf weiß akribisch zusammengetragen.
Die
letzten beiden Blätter enthielten Notizen über Richards
Durchsuchung
von Hopfs Anwesen mit der doppelt unterstrichenen Anmerkung Photographien
Zilly?! - Keine Arznei gefunden! und eine Skizze mit der Überschrift Fall
Wennecke/ Anonymus - (Lichtenstein?). Darunter hatte Richard Namen in
Kästchen geschrieben und mit Strichen und Pfeilen verbunden: Hopf und Zilly,
Zilly und Heynel, Heynel und Wennecke, Wennecke und Hopf, letzteres mit dem
Zusatz: Warum fragt H. nach Erkenntnissen? 'Zwischen Hopf und Heynel
stand ein Fragezeichen. Von Wennecke führte ein Pfeil zu David mit der Bemerkung Erpressung, in Klammern der Name Sepp. Das Wörtchen Warum? war
gestrichen und durch Photographien ersetzt. Von dort ging ein Pfeil über
Hopf zu Zilly. Darunter die Bemerkung: Aufnahmeort Laterna Magica. Bei
Zilly, Heynel und Hopf stand, jeweils mit Fragezeichen versehen, die Anmerkung Zitate/Drohbriefe. Und am Rand des Blattes: Vict. - Hopf- Sherlock H. ??? Victoria
mußte nicht lange nachdenken, was damit gemeint war. Sie legte die Briefe in
den Nachtschrank zurück. Die Photographien zündete sie an und warf sie in den
Kamin. Als sie verbrannt waren, ging sie zum Fenster. Es ist vor allem auch
Deine Schuld. Die Schwärze der Nacht glänzte hinter Glas. Ihr Gesicht
spiegelte sich darin, blaß und fremd.
Am
nächsten Morgen plagte sie ein stechender Kopfschmerz. Ihr war schwindlig, und
ihr Gesicht hatte Flecken. Sie nahm Therese Biddlings Bild und klopfte an
Vickis Zimmer. Ihr Bett war zerwühlt und leer, Richards gerahmtes Porträt vom
Nachttisch verschwunden. Louise kam herein und hielt ihr weinend einen Brief
hin. »Sie schreibt, sie fährt nach Berlin zu ihrer Schwester und ihren
richtigen Großeltern. Und daß ich genauso eine gemeine Verräterin bin wie Sie.
Was sollen wir denn jetzt tun?«
»Ich
werde Georg Biddling telegraphieren, daß sie kommt.«
»Aber
sollten wir nicht
»Vicki
ist alt genug. Sie kann selbst entscheiden, wo sie leben will.« Bezahlen
mußt Du jetzt selbst. Der Boden bewegte sich unter ihren Füßen.
»Um
Gottes willen, gnädige Frau!«
Das war
das letzte, was sie hörte.
Als sie
aufwachte, war es dunkel. Auf dem Nachttisch brannte eine Lampe. »Schön, daß
Sie wieder bei uns sind«, sagte Heiner Braun.
Sie sah
ihn verwirrt an. Er lächelte. »Sie haben uns ordentliche Sorgen gemacht,
Victoria.«
»Wie
spät ist es denn? Was ist passiert?«
»Sie
sind zusammengebrochen, und
»Wann?«
»Vor
vier Tagen.«
»Aber
das kann doch nicht sein! Ich muß sofort
Er
schüttelte den Kopf. »Sie müssen gar nichts. Außer wieder zu Kräften kommen.«
»Was
ist mit Vicki?«
»Sie
ist gut in Berlin angekommen«, sagte Louise von der Tür. »Ihr Vater hat mit
Ihrem Schwiegervater telephoniert, und geschrieben hat sie auch.« Sie stellte
eine Tasse Tee auf den Nachttisch. Heiner verabschiedete sich.
»Wie
lange war Herr Braun hier?« fragte Victoria, als er das Zimmer verlassen hatte.
»Fast
die ganze
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