Hahn, Nikola
hatte.
»Soll
ich Ihnen beweisen, daß ich recht habe?« Hopf trank seinen Kaffee aus. »Ihre
Literaturkenntnisse und die vielen Originalausgaben sagen mir, daß Sie gebildet
und mehrsprachig sind, Ihre Eltern mithin keine Kosten scheuten, Ihnen außer
der finanziellen auch eine geistige Mitgift mitzugeben. Es wäre gegen jede
Norm, hätten sie es klaglos akzeptiert, daß Sie einen Mann heirateten, der
gesellschaftlich unter Ihnen steht. Da mittlere Beamte nicht in Ihren Kreisen
zu verkehren pflegen, können Sie ihn nur im Zusammenhang mit seinem Beruf kennengelernt
haben. Die Erscheinungsdaten Ihrer Bücher und der Grad ihrer Abnutzung geben
Aufschluß darüber, wann sie erworben wurden und wie oft sie in Gebrauch waren.«
Er
lächelte. »Edgar Allan Poes Rue Morgue müßten Sie demnach auswendig
können. Der Staub auf dem Einband läßt allerdings vermuten, daß Ihre Verehrung
für Chevalier Auguste Dupin schon ein Weilchen zurückliegt. Die Qualität Ihrer
Bücher ist höchst unterschiedlich; die aus den achtziger und neunziger
Jahren
sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, allesamt broschiert, was darauf
schließen läßt, daß Sie zur Zeit ihrer Anschaffung über begrenzte Mittel
verfügten, was sich zur Jahrhundertwende jedoch änderte. Das wiederum läßt den
Schluß zu, daß Sie um diese Zeit in Ihr Elternhaus zurückkehrten,
wahrscheinlich gegen den Willen Ihres Mannes, was nicht ohne Folgen auf Ihr
Verhältnis zueinander geblieben sein dürfte. Daß Sie das Strand Magazine mit
dem ersten Teil von The Hound of the Baskervilles besitzen, nicht aber
das komplette Manuskript, sagt mir, daß sich etwas ereignete, das Ihnen die
Lektüre vergällte. Berücksichtigt man, daß nach Sherlock Holmes' Tod selbst die
Londoner Finanzmakler einen Trauerflor an ihre Zylinderhüte steckten, ist Ihre
Enttäuschung über die alte Geschichte vom Hund der Baskervilles nur zu begreiflich,
mag sie noch so spannend erzählt sein. Und was Ihren Mann angeht: Sicher fühlte
er sich gekränkt, als er herausfand, daß Sie um einer billigen Lektüre willen
Ihren Vater hinter seinem Rücken um Geld gebeten hatten.«
Victoria
wollte etwas einwenden, aber er winkte ab. »Bleibt Ihr Schreibtisch. Ein wenig
damenhaftes Möbel, das Gebrauchsspuren aufweist und nicht der herrschenden
Mode entspricht. Das läßt den Schluß zu, daß er viele Jahre alt ist und früher
einem Mann gehörte. Der Standort in Ihrem Lieblingszimmer läßt eine besondere
Beziehung zum vormaligen Besitzer vermuten. Sie selbst sagten mir, daß Ihr
Bruder in Ostindien lebt. Der Brief, den Sie vorhin an sich genommen haben,
stammt - wie die Briefmarken verraten - ebendaher. Wäre der Inhalt banal,
hätten Sie das Kuvert liegengelassen.«
Sein
Blick streifte ihr Kleid. »Schließlich zeigen mir Ihre aufrührerische
Garderobe und Ihre heftige Reaktion auf meine vorgebliche Kritik an weiblichem
Leistungsvermögen, daß Sie über einen starken Willen verfügen und die Ihnen
zugeschriebene gesellschaftliche Rolle ablehnen, obwohl Sie sie als Ehefrau und
Mutter andererseits bereitwillig ausfüllen. Ihren langjährigen Hang zu
verbotenen Büchern haben Sie mir selbst verraten, und was Gräfin von Tennitz
betrifft, weiß ich, daß sie anderen Menschen zuweilen das Gefühl vermittelt,
ihr nicht das Wasser reichen zu können. Zu Cornelias Ehrenrettung sei
allerdings gesagt, daß sie in der Mehrzahl der Fälle recht hat. Würden Sie einen
engeren Umgang mit ihr pflegen, hätte ich Sie sicher bei einem meiner Besuche
in ihrem Haus getroffen. Im übrigen hat sie mir gesagt, daß sie Detektivromane
verabscheut. Wobei sie durchaus das eine oder andere Werk gelesen zu haben
scheint.« Er lächelte. »Nun ja, und wie Einsamkeit aussieht, brauche ich nicht
zu deduzieren, gnädige Frau. Das verrät mir Ihr Gesicht.«
Victoria
starrte auf ihre Hände. »Warum tun Sie das?«
»Was
denn?« fragte er freundlich.
Sie
stand auf und sah aus dem Fenster. Der Main war so grau wie der Himmel. Von der
Scheibe perlte Regen.
Hopf
stemmte sich mühsam aus dem Sessel hoch. »Der Mensch ist ein dunkles Wesen.
Er weiß nicht, woher er kommt, noch wohin er geht, er weiß wenig von der Welt
und am wenigsten von sich selber.«
Sie
drehte sich zu ihm um. »Warum sind Sie gekommen?«
Er
lächelte. »Um endlich mal wieder Goethe zitieren zu können.«
»Das
dürfte sich im Hause von Tennitz besser machen als hier.«
»Die
Ahnen von Sherlock Holmes sind weder Chevalier Dupin noch Monsieur Lecoq,
sondern
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