Hahn, Nikola
mit den Schultern. »Deine Mutter hat recht. Außerdem kann ich dir das
Spiegelzimmer erst zeigen, wenn du ein Rätsel gelöst hast.«
»Welches?«
Er
dachte nach. »Nenn mir die Frucht mit dem härtesten Kern! Sie trägt ihn nicht
innen und doch mittendrin. Entferne die Schale, dann ißt du sie gern, Essenz zu
gewinnen - ein Buch führt dich hin.«
Flora
lachte. »Das ist doch einfach: Die Nuß!«
»Falsch.
Eine Nuß hat eine harte Schale und einen weichen Kern.« Hopf ging zu dem
Schrank, in dem Victorias Detektivgeschichten standen und nahm die Abenteuer
des Dr. Holmes heraus. »Die Lösung steht hier drin.«
»Pah!
Soll ich das alles bis Mittwoch lesen?«
Er
zwinkerte ihr zu. »Das Geheimnis des Geheimnisses ist, daß die Lösung in ihm
selbst verborgen liegt. Du mußt bloß genau hinsehen und nach der richtigen
Farbe suchen.«
Sie
nahm das Buch. »Welche Farbe denn?«
Karl
Hopf kramte in einer Tasche seines Reitjacketts und hielt ihr seine Faust hin.
»Was
hast du da drin?«
Er
öffnete die Hand.
»Ein
Edelstein«, rief Flora.
Hopf
sah Victoria an. »Ein Bergkristall aus Ostindien.«
Flora
betrachtete den wasserklaren, facettiert geschliffenen Stein. »Aber der hat
doch gar keine Farbe!«
»Du
mußt sie ihm erst geben.« Hopf winkte sie zum Kamin und hielt den Stein vor das
Feuer. »Und der Name wird ein Zeichen/Tief ist der Kristall durch
drangen:/Aug' in Auge sieht dergleichen/Wundersame Spiegelungen.«
»Den
Spruch hast du aber geklaut, Karl.«
Er
grinste. »Sieh an, Fräulein Flora kennt Goethe. Ganz scheint die Schlacht also
nicht verloren.« Er gab ihr den Stein und führte ihre Hand zum Feuer. »Schon in
alter Zeit wußte man in Kristallen Geheimnisse zu erschauen. Du kennst doch
bestimmt die Wahrsagerinnen auf dem Jahrmarkt, die
»Papa
sagt, daß das Kokolores ist.«
»Welche
Farbe siehst du?«
»Orange.
Von den Flammen.«
»Damit
hast du das Rätsel schon zur Hälfte gelöst.«
Victoria
deutete auf das Buch. »Du brauchst nicht besonders lange zu lesen, bis du auf
die zweite Hälfte stößt.«
»Das
ist gemein! Du hast es Mama vorher verraten!«
Er
schüttelte den Kopf. »Deine Mutter ist eine kluge Frau und hat die richtigen
Dinge studiert. Der Gerechtigkeit halber gebe ich ihr ebenfalls ein Rätsel
auf.« Er sah Victoria an. »Eine kleine Übung in der Kunst der Deduktion dürfte
für Sie eher ein Vergnügen denn eine Last sein, oder?«
»Deduktion?
Was ist das?« fragte Flora.
»Das
steht auch in dem Buch«, entgegnete Hopf.
Sie sah
ihn mitleidheischend an. »Ach, bitte, erklär's mir, Karl!«
»Du
kennst das Gesetz von der Erdanziehung?«
Flora
nickte. »Es besagt, daß alle Dinge nach unten fallen.«
»Richtig.
Ganz gleich, ob du den Kristall oder deine Haarspange fallen läßt, die
Kenntnis dieses Gesetzes ermöglicht es dir, vorherzusagen, daß beides auf dem
Boden landen wird. Und schon kennst du die erste Methode der Deduktion: aus dem
Allgemeinen das Besondere abzuleiten.«
»Und
was ist die zweite Methode?«
»Logische
Schlußfolgerungen zu ziehen«, sagte Victoria.
»Stell
dir vor, Malvida entwischt dir«, sagte Hopf. »Du suchst im ganzen Haus,
schließlich sogar im Keller. Du ekelst dich, als du vor einer der Türen ein
großes Spinnennetz siehst, aber mutig wischst du es weg. Du öffnest die Tür,
und Malvida kommt dir schwanzwedelnd entgegen. Was schließt du daraus?«
»Daß
ich das nächste Mal besser auf sie aufpassen muß.«
Hopf
lächelte. »Um in den Keller zu kommen, mußtest du das Spinnennetz zerstören,
also war die Tür mindestens so lange geschlossen, wie die Spinne gebraucht hat,
es zu weben. Wie du sicher weißt, dauert das eine ganze Weile. Daraus folgt,
daß Malvida nicht durch diese Tür in den Keller hineingekommen sein kann. Und
das wiederum heißt, daß es mindestens einen weiteren Zugang geben muß.«
Respektvoll
betrachtete Flora das Buch. »Das steht alles da drin?«
»Der
Held in dem Buch beherrscht die Kunst der Deduktion so perfekt, daß er jedes
nur denkbare Verbrechen aufzuklären vermag«, sagte Hopf.
»Dann
könnte er auch den Mörder von Herrn Lichtenstein finden?«
»Sicher.«
»Das
muß ich unbedingt Papa erzählen!«
»Wenn
du das Rätsel nicht lösen kannst, darfst du deine Schwester um Rat fragen.«
»Nein! Ich
schaffe das allein. Und ich fang' jetzt gleich damit an.« Sie gab ihm den
Kristall zurück. »Bis übermorgen, Karl.«
Hopf
verbeugte sich. »Gehaben Sie sich wohl, gnädiges Fräulein.« Flora lachte
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