Hahn, Nikola
gnädige Frau.«
»Eine
Ausrede akzeptiere ich nur, wenn sie originell ist«, kam es von der Tür.
»Sie
sind reichlich unverschämt, Herr Hopf«, sagte Victoria.
Er
verbeugte sich. »Gestatten Sie einem neugierigen Besucher, untertänigst
einzutreten?«
Tessa
stemmte ihre Arme in die Hüften. »Ich habe Ihnen gesagt, daß die gnädige Frau
in der Bibliothek nicht gestört zu werden wünscht!«
»Nullus est liber tam malus, ut non aliqua parte prosit. Kein Buch ist so schlecht, daß es nicht auch irgendwie nützlich
sein könnte. Plinius der Jüngere, Briefe drei.«
Victoria
hatte Mühe, nicht zu lachen. »Es ist gut, Tessa. Bringen Sie uns bitte
Kaffee.«
Tessa
knickste und verschwand. Victoria steckte Ernsts Brief zurück in den Umschlag.
»Welche unaufschiebbare Angelegenheit führt Sie zu mir?«
Er nahm
ihre Hand und deutete einen Kuß an. »Hätten Sie mich empfangen, wenn ich gesagt
hätte, daß ich zufällig in der Stadt bin und Sehnsucht verspürte, Sie zu
sehen?«
Sie zog
ihre Hand weg. »Selbstverständlich nicht.«
Hopf
holte eine Zeitung aus seinem Reitjackett. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht,
gnädige Frau. Aus der Collier's Weekly vom 26. September 1903. Gestatten
Sie, daß ich übersetze? Im Frühjahr 1894 wurde der Ehrenwerte Ronald Adair
unter höchst ungewöhnlichen und unerklärlichen Umständen ermordet: Ganz London
interessierte sich für den Fall, und die vornehme Welt war bestürzt.«
Er
grinste, als er ihr Gesicht sah. »The Adventure of the Empty House oder
die Wiederkehr des einzigen nicht beamteten Detektivs auf der ganzen Welt.«
»Des
einzigen nicht beamteten beratenden Detektivs auf der ganzen Welt«, verbesserte
Victoria.
»Ich
stelle fest, Sie haben Ihren Meister gründlich studiert.«
»Bitte
nehmen Sie Platz.«
»Erlauben
Sie, daß ich zunächst meine Neugier befriedige?« Er inspizierte die Bücherreihen
in den Regalen und Schränken, die ungeordneten Stapel auf der Fensterbank und
alte Tageszeitungen, die in einer Ecke lagen. Die kriminalistischen Titel, Victorias
Detektivgeschichtensammlung und die englischsprachigen Magazine schienen ihn besonders
zu interessieren. Zuletzt ging er zum Schreibtisch und nahm das zuoberst
liegende Werk zur Hand, Grillparzers Drama König Ottokars Glück und Ende.
»Eine
interessante Studie über den immer wiederkehrenden Konflikt zwischen Recht und
Hochmut«, sagte Victoria.
»Mit
einem wirklichkeitsfremden Finale. Wo auch die Frau ein Recht hat, eine
Stimme und Macht, um zu vollführen, was sie denkt; wo eine Königin nicht bloß
des Königs Gattin, wo sie Gebieterin ist.«
»Das
ist nicht das Finale.«
»Aber
es würde Ihnen gefallen«, sagte er lächelnd. Er legte das Buch beiseite und
betrachtete Ernsts Brief.
Victoria
nahm ihn weg. »Ich glaube, Sie waren neugierig genug.«
»The
Dead Letter«, zitierte er den Titel eines
anderen Buchs.
»Von
Seeley Regester«, sagte Victoria. »Sie ist Amerikanerin und hat 1867 als erste
Frau eine Detektivgeschichte veröffentlicht.«
»Es
gibt Besseres.«
»Sicher.
Detektivgeschichten, die Männer verfassen!«
Er
grinste. »Zum Beispiel Ein Drama auf der Jagd von Anton Tschechow...«
»...
der sich ungeniert bei Heinrich von Kleists zerbrochnem Krug bedient hat. Einen
Richter, der einen Unschuldigen für eine Tat verurteilt, die er selbst begangen
hat, finde ich nicht besonders originell. Vor allem nicht, wenn der Leser durch
die dummen Fußnoten des Autors um das Vergnügen gebracht wird, den Mörder
selbst herauszufinden.«
»Sie
dürfen nicht voraussetzen, daß jedermann im Lösen von Kriminalrätseln so geübt
ist wie Sie«, sagte Hopf. »Und wenn Sie gern Kleist lesen, empfehle ich Ihnen
unbedingt das Käthchen von Heilbronn, das
»...wie
ein räudiger Hund der Schweißspur ihres angebeteten Grafen folgt und sich von
ihm zum Vergnügen quälen läßt? Das könnte Ihnen so passen.«
»Verzeihen
Sie, Ihre Bibliothek ist gut sortiert, aber nicht gut genug, als daß Sie den
tieferen Sinn der Sache verstehen könnten.«
»Welchen
tieferen Sinn, bitte?«
»Daß es
eine Freude ist, Pelze anzuschauen«, sagte er amüsiert.
Bevor
Victoria etwas erwidern konnte, kam Tessa mit dem Kaffee herein. Sie räumte den
Tisch frei und stellte das Tablett darauf ab.
»Und
welches Werk setzt mich Ihrer Meinung nach in die Lage, Kleist richtig zu
interpretieren?« fragte Victoria, als sie wieder alleine waren.
»Es lag
nicht in meiner Absicht, Sie zu kränken.«
»Ich
wäre Ihnen dankbar,
Weitere Kostenlose Bücher