Halbe Leichen (Ein Lisa Becker Krimi) (German Edition)
triffst.“ Sven meinte mal wieder, sich entschuldigen zu müssen. Das tat er ständig. Er entschuldigte sich quasi für seine bloße Anwesenheit. Dafür gibt es keine Entschuldigung, würde ein Zyniker sagen. Aber das wäre unfair. Sven war ein angenehmer Umgang, so lange es nicht gerade um Politik, Tierschutz oder die imperialistischen amerikanischen Schweine ging. Dann konnte er nerven. Aber so richtig.
„ Schon gut“, brummte Lisa. „Aber ich muss jetzt mal so langsam.“ Sie stand auf.
„ Nee, ist klar. Ich wollte nur sicher gehen, dass bei dir nicht eingebrochen wurde oder so.“
„ Dann hättest du eigentlich heute nacht kommen müssen.“
Sven wurde rot. Bei manchen Männern war das süß, aber nicht bei einem dürren Schlacks mit John-Lennon-Gedächtnis-Brille Ende dreißig, der frühmorgens in alter Jeans und Holzfällerhemd (im Winter: Norwegerpullover) an deinem Esstisch sitzt und Konversation betreiben will, während dein Hirn kaum in der Lage ist, einen vernünftigen Satz zusammenzubasteln.
„ Wollte ich auch erst. Aber ich wollte dich nicht wecken und so. Ich hab auch gedacht, das war sicher nur ein Tier.“
Lisa sah ihn zum ersten Mal an diesem Morgen genauer an. Sie wunderte sich plötzlich über die Ringe unter seinen Augen. Er sah nie besonders gesund aus, was komischerweise häufig vorkam bei Vegetariern, aber bei ihm lag es an den vielen Zigaretten. In ihrer Wohnung rauchte er nie, aber wenn sie ihn oben besuchte, erinnerte sie sich wieder an das kleine, stickige Raucherzimmer an der Schule, wo sich die coolsten von allen trafen, um Lässigkeit und Raucherhusten zu trainieren. Aber heute sah Sven noch schlimmer aus als sonst.
„ Du bist doch deswegen nicht die ganze Nacht wach gewesen, oder? Du siehst aus, als hättest du überhaupt nicht geschlafen.“
Sven wurde still. Er schien plötzlich mit seinen Gedanken ganz woanders. Er sah Lisa an, und sein Blick kam ihr vor wie eine Mischung aus Erschöpfung, Furcht und Ertapptsein.
Du meine Güte , dachte Lisa, er ist wirklich die ganze Nacht deswegen wach geblieben.
Dann sprang Sven auf und sagte einfach nur noch „Tschö“. Weg war er. Lisa wusste nicht, was sie davon halten sollte. Wie stand sie eigentlich zu Sven? Er sah doch recht gut aus, auf so eine alternative, ernsthafte Art. Ein paar Jahre älter als sie, aber nicht viel, sie war ja auch schon zweiunddreißig. Und sie hatte schon lange keinen mehr gehabt, jedenfalls nicht so mit allem drum und dran, zusammen ins Schwimmbad gehen, Kurzurlaub und dieser ganze Kram aus dem Standard-Beziehungsprogramm. Sie mochte ihn, na gut. Er war ein sensibler, warmherziger Typ, wäre sicher ein liebevoller Partner Querstrich Vater, eigentlich genau das, was sich Frauen wünschten. Oder wünschen sollten. Eigentlich. Im Prinzip. Hmm, tja.
Ihre Gedanken über Männer wurden schnell verdrängt von wichtigeren Themen, speziell der Wahl der richtigen Schuhe. Das Regal in der Diele quoll mal wieder über, sie musste unbedingt welche weggeben. Oder sich ein größeres zulegen, so wie beim letzten Mal.
Noch wichtiger die Frage: Reinstecken oder nicht? Ihre dunkelblaue Hose hatte Stretch-Bund, das würde nicht unbequem werden, aber dann ließ sie ihre Bluse doch lieber wieder außerhalb flattern, dann fiel auch ihr BH nicht so auf. Als sie sie das letzte Mal reingesteckt hatte, war der Blick von Kollegen – und ganz besonders von Fabian – irgendwie uncharmanter Natur gewesen. Vermutlich bildete sie sich das nur ein, dachte sie, aber was sie sich ganz sicher nicht einbildete, war die deutliche Wölbung ihres Bauchs über dem Gürtel. Sie konnte ihn nicht dauernd einziehen, weil das wiederum mit einer geradezu grotesken Maximierung ihres Busens einherging, der so schon viel, viel zu groß war. Und das war ja offenbar das schlimmste, was man sich in der heutigen Gesellschaft vorstellen konnte. Natürlich waren große Brüste gefragt, aber die mussten an einer dünnen Frau rumbaumeln, sonst waren exakt die gleichen Brüste total ekelig. Lisa hatte aufgegeben, das kapieren zu wollen, und war noch nicht so weit, darüber erhaben zu sein. Da nutzte es ihr auch nichts, dass Marilyn Monroe Größe 42-44 getragen hatte.
Als sie fertig als junge, dynamische Powerfrau kostümiert war und den Schlüssel aus dem Schloss zog, hörte sie das Geräusch. Es klang wie eine komische Mischung aus Brummen und Rattern. Ganz leise schien es aus dem Wohnzimmer zu kommen. Neugierig schlich sich Lisa ins Wohnzimmer.
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