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HalbEngel

HalbEngel

Titel: HalbEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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oder hinter dem Rücken oder im Sitzen mit dem Brett auf dem Schoß oder ähnliche Kinkerlitzchen, die frühere Gitarristen zu ihren Markenzeichen gemacht haben. Er kann auch nicht seine Les nehmen und sie auf dem Boden oder gegen den Verstärker zertrümmern. Er hat nämlich nur die eine und hat einmal, hoffentlich im Scherz, gesagt, dass er mit der Musik aufhören wird, wenn die Les eines Tages kaputt geht.
    (Allerdings hat er noch eine elektrisch-akustische Lakewood M 56 in einem besonders gut verschlossenen Koffer, die er sich von den ersten fließenden Superstar-Tantiemen geleistet hat und mit der er dich dazu bringen kann, sich in ihn zu verlieben.)
    Billy Corgan von den Smashing Pumpkins hat mal gesagt, die Musik der Pumpkins klingt, als ob Engel husten.
    Mercantile Base Metal Index featuring Floyd Timmen klingen, als hätten die Engel epileptische Anfälle und würden aus ihren Genitalien heißes Blut über die Erde spritzen.
     
    Lass uns noch weiter zurückgehen.
    Du weißt schon.
    Die Glocken.
    Tarkowski hat mal einen Film gedreht, in dem er versucht hat, die Entstehung einer Glocke als spirituellen Akt zu erklären. Schwieriges Unterfangen. Hängt sehr stark von der Bereitschaft des Betrachters ab, sich auf so etwas einzulassen. Je schneller jemand lebt, je eiliger es jemand hat, letzten Endes nirgendwohin zu kommen, desto unverständlicher und lästiger wird so was.
    Floyd Timmen lebt nicht schnell.
    Er lebt – so lange er nicht spielt – leise.
    Seine Präsenz ist fast nicht spürbar, bis er dann direkt hinter dir steht. Er hat eine jugendlich-männliche Hübschheit, aber nicht konventionell genug, um ihn zu einem Idol kreischender Teenager zu machen. Es ist vielmehr (es ist viel mehr), als ob du ihn nie richtig sehen kannst, als ob alle deine Sinne ein kleines bisschen blind werden in seiner Gegenwart, nur der eine nicht, von dem er lebt, das Gehör. Er lebt leise, man hört ihn kaum atmen, die Mädchen, mit denen er schläft, hören kaum sein Herz schlagen. Er erkundet, jeden Tag seines Lebens ein wenig weiter, aus dem Zentrum seiner Stille heraus den Lärm der Welt.
    Er war ein kleiner Junge noch, als er die Glocken entdeckte.
    Riesige, schwarze, unten erweitert geöffnete Becher, die umgestoßen worden waren, jetzt in sich selbst vibrierend ihr Übermaß an Klang und Lautstärke ausgossen über alles, was unter ihnen lag, und, hoch oben angebracht im Turm, lag alles unter ihnen. Der kleine Floyd berührte mit weißer Hand das wie rußig wirkende, bebende Metall, das von schweren Seilen und Mechanismen gezogen vor- und zurückbaumelte wie hospitalistische Wildtiere im viel zu engen Käfig. Der kleine Floyd erwartete, dass das Metall sich heiß anfühlte, aber es war kalt, von einer angenehmen, ruhigen Kälte, und seine Hand zuckte zurück.
    Alle seine Sinne zuckten zurück.
    Ein alter Vorhang aus abgewetztem rotem Samt fiel über seine Augen.
    Seine Zunge vertrocknete wie ein im Mund gestrandeter Fisch.
    Seine Nase nahm nichts wahr außer einer vagen Temperatur.
    Seine Fingerspitzen zuckten, beide Hände vorm blinden Gesicht erhoben. Der kleine Körper erbebte und wölbte sich unter dem Ansturm aus Lärm, monotoner Bewegung und nur durch ein paar schräge Querschindeln verwehrter Höhe.
    Er konnte das Wunder schon damals deutlich hören.
    Wenn Glocken zu schlagen beginnen – sagen wir einmal: vier –, hält jede von ihnen stoisch ihren Ton, der dann von den anderen ebenso stoisch und halsstarrig gebrochen wird, bis – da Glocken nur in seltensten Fällen von echten Virtuosen gezogen oder programmiert werden – eine rhythmische Verschiebung einsetzt, sie sich wie eine schräge Ebene immer weiter fortsetzt und gleichzeitig mit dem schneller und heftiger werdenden Schlagen an Kraft gewinnt. Mit großer Wucht hämmern die Klöppel nebeneinanderher, übereinander, gleichzeitig, dann wieder nur fast gleichzeitig, dann geordnet nacheinander, jede für sich und doch alle miteinander, vier Musketiere aus Bronze. Der warme, weithin wohltönende Hall
     
    Halllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll
     
    steigt auf und ab in zufälligen, niemals wiederkehrenden, immer neu variierten Melodiebögen, die alle ähnlich klingen, wiedererkennbar  – sodass man verschiedene Kirchen ohne Weiteres an ihrem Geläut identifizieren kann –, aber eben niemals so wie vorher.
    Dann passiert das Wunder. Es setzt in dem Augenblick ein, wenn alle vier Klangkörper sich auf gleichmäßige Art und

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