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HalbEngel

HalbEngel

Titel: HalbEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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vieler anderer Massen-Fütterungen. Vor Utahs innerem Auge taucht das Bild des Kolosseums von Rom auf, jener gigantischen Arena, die sie zwar nur aus Filmen kennt (einer davon mit Greg Peck und Aud Hepburn), die sie aber jetzt zu verstehen glaubt. Ein Tempel der Schaulust, nach oben offen wie die Schreie der blutgierigen Masse. Das Trampeln und Brüllen der Schau-Lustigen so beherrschend, dass Tonstaub und antiker Mörtel aus allen Fugen rieseln. Und unten, im lichtverwehrten Immerdunkel der Katakomben, die angstschweißglänzenden Leiber derer, für deren Pein diese Bühne bereitet worden ist. Genau wie so ein Gladiator kommt sie sich jetzt vor, als Floyds Gesicht sich seitlich ausfüllend in ihr Blickfeld schiebt und sein Mund ihr ruhig »Drei Minuten« sagt.
    Sie küsst diesen Mund, dann rennt sie von der Hinterbühne, verzweifelt versuchend, sich an den Weg zurück zu erinnern. Es gelingt ihr nicht, zu ameisenbauhaft ist hier alles, und sie ist fast froh, als ein ziemlich grober Sicherheitsmann, einer von Donellis Gesichtslosen, sie unsanft vor sich her treibt Richtung Bühne. Sie braucht eigentlich nicht mehr zurück in die Ruhezone, alle ihre Instrumente stehen griffbereit on stage, es wäre nur nett gewesen, die anderen vorher noch mal zu sehen, Hall, ob er wieder low genug ist, um überhaupt spielen zu können, und Nick, ob er nicht doch endlich gottverfucktnoch mal ein ganz kleines bisschen nervös wird.
    Alles ist vorbereitet, alles ist so weit. Die Menge kreischt, die Kameramänner fangen schreiende Münder ein. Sperrende Vogelkinder, viel mehr, als Eltern da sind, aber mit Verstärkung durch Technik muss die Speisung der Zehntausend einfach klappen. Nick muss zuerst rauf, so war es abgesprochen – Nick muss zuerst wo zum Teufel steckt Nick der beschissene Angeber wahrscheinlich meditiert er immer noch und lächelt dabei sogar. Floyd ist erst als Letzter dran, the Star of the Show Hard Workin Mister Dynamite Floooooooyd TIMmen! Die Saallichter sind noch an, sodass man deutlich sehen kann, wie über den klaffenden Mündern so viel Rauch wabert, dass man denken könnte, die ganze Halle steht in Flammen. Außerdem ist die Hitze so groß, es ist Juni, ist die Hitze viel zu groß, die in den vorderen Reihen schwitzen schon so sehr, dass ihre zumeist langen Haare ganz nass sind. Utah schaut sie sich an aus ihrer seitlichen Position vom Rand der Bühne aus, umringt von miteinander über Handy kommunizierenden – obwohl unmittelbar nebeneinanderstehenden – Bodyguards (für wen eigentlich? sie hatte, soviel sie wusste, keine Bodyguards) und technischen Sicherheitsleuten (wessen Sicherheit? Donellis? die des Mannes, der die Einnahmen des Abends verwaltet?). Es gibt keine Musik, die die Pause zwischen Vor- und Hauptband über Lautsprecher füllt. Keine Musik, das ist besser für die Anspannung, hatte Sletvik gesagt. Irgendwo da ganz hinten, wo die Getränkestände sind, läuft die mean merchandising machine und reicht knittrige T-Shirts mit HalbEngel-Motiven über eine hastig zusammengezimmerte Theke. Es sind vier Kameramänner. Vier. Sie beschließt, sie im Auge zu behalten. Vier Mann sind bestimmt ganz schön teuer, und unter der Decke hängen wohl noch welche, irgendwas von einer Kammerschaukel war noch geredet worden, hätte ich mal nur besser aufgepasst, aber ich dachte, das geht mich ja alles gar nichts an ich bin nur Musik und jetzt hängt mein Leben von so was ab wie einer Schaukel.
    Die Saallichter gehen aus. Jetzt-Zeit! Das Geschrei der Dreizehn- oder Vierzehntausend steigert sich auf genau 200 Prozent. Es ist schlichtweg ohrenbetäubend. Abgebrühte Sicherheitskolosse zeigen sich gegenseitig grinsend die Thumbs up!, einer tätschelt ihr sogar wohlwollend die schmalen Schultern. Sie wundert sich langsam über gar nichts mehr. Dies ist ihr über vierhundertster Gig insgesamt, sie hat ja schon solo getourt, bevor sie MBMI kennenlernte, und damals mindestens dreihundert Konzerte gegeben in verschiedenen Städten, manchmal zwei an einem Abend, dazu kamen dann noch fast hundert Auftritte mit MBMI , mit denen sie jetzt fast ein Jahr zusammen ist – dennoch passt hier gar nichts mehr auf die Erfahrungsmuster der anderen Male. Dies hier ist wie – warum rechnet sie hier eigentlich herum, sie ist doch sonst nicht an Zahlen interessiert? – dies hier ist wie wenn man – wo bleibt Nick wo bleibt Nick wie lange kann man das Saallicht auslassen ohne dass auf der Bühne was passiert ohne dass die tobende Meute

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