HalbEngel
Sie ist von Anfang da, die ungeheuerliche Macht seines ganz spezifischen Sounds, dieser bassige, dröhnende Wall-of-Sound-Charakter, der nicht wie von einer einzigen Gitarre klingt. So übernimmt er die vorgewärmten Fans auf einem Spiegeltablett und reißt sie von Anfang an mit sich fort ins Vollgas der elektrisch-eklektizistischen Ekstase. ›The Herd‹ geht jetzt erst richtig los und geht noch gute sieben Minuten weiter, und der sonst so stille und introvertierte Floyd bewegt sich viel, schwingt ganzkörperlich im Beat oder auch dagegen, lässt die Haare vor- und zurückfliegen und springt auch ab und zu in der Luft herum, als könnte er tatsächlich ein ganz klein bisschen fliegen.
Der Übergang zu ›Goodbye‹ ist fließend und kommt so, dass es die Leute erst gar nicht richtig mitkriegen. ›Goodbye‹ und ›Implication Storm‹ werden nacheinander abgefeiert, um die Stimmung auf dem Siedepunkt zu lassen, aber auch, um den sperrigen Hitballast erst mal aus dem Weg zu haben. Erstaunlich ist bei beiden Songs – die in ähnlichem Gewand daherkommen wie auf Platte –, dass Floyds Stimme live rauer klingt und er auch gesanglich noch mehr zu kreativen Variationen neigt als in der doch recht leblosen Atmosphäre eines Studios. Spätestens nach dem dritten Song ist jedem klar, dass Mercantile Base Metal Index tatsächlich eine Live-Band sind.
Nach diesen drei rhythmisch durchgängigen und somit mittanzbaren Zugpferden erfolgt der erste Bruch. Über ein merkwürdig versponnenes Pianointro von Utah schleichen sich Floyd und Hall in die schlagzeuglosen Gefilde von ›Grey‹ hinein. Die Melodie ist gegenüber der Albumversion kaum noch als solche auszumachen, die Les klingt ein wenig wie ein Chor hochschwangerer Nonnen, Halls Bass hat fast keinen Anschlag, tatsächlich streicht er ihn fast mit den Fingern, so wie ein Standbass im klassischen Konzert mit dem Bogen gestrichen wird. Danach kommt ›Word is Soul‹, das von einem Wettwispern zwischen Floyd und Utah beherrscht wird. Utahs Piano erreicht hier fast claydermaneske Gesetzlichkeit. Die unvermeidlichen Wunderkerzen und sonstigen Leucht-Accessoires gehen an, schließlich sind sie ja mitgebracht oder eigens hier erstanden worden, und außer bei ›Word Is Soul‹ und bei ›Legless Bird‹ kann man sie eh nicht verbrauchen. Die sanft wie Babys hin- und hergewogte Menge wird in eine Aura träumerischer Glücklichkeit versetzt und mit Harmonik abgefüttert, bis es fast nicht mehr zu ertragen ist. Kurz bevor es am schönsten wird jedoch durchbricht Floyd die Elegie mit einer furchtbaren Dissonanz und fängt wie am Spieß an zu schreien. Die Mitdenkenden unter den Zahlenden begreifen sofort, was jetzt kommen muss, und fallen in das infernalische Gebrülle mit ein. Alle Musik kommt zum Erliegen. Zuerst sind es nur etwa tausend Schmerzensschreie, die durch die Halle kreischen, es werden aber schnell mehr, wie eine Epidemie breitet sich der Lärm von Kopf zu Kopf aus, bis auf dem Höhepunkt der Erfassung etwa achttausend Kehlen unkontrolliert brüllen, Hände in Haaren verkrampft, zur Unsichtbarkeit verkniffene Augen in platzroten Gesichtern dickflüssige Tränen hervorpressend. Floyd hört als Erster mit dem Geschrei auf und sagt mit heiserer, atemloser Stimme einen einzigen Satz ins Mikro: »This is what tomorrow sounds like.«
Der Massenschrei wird noch lauter, noch schriller, dann beginnt es rotglühende Notenfetzen zu regnen. Floyd Timmens Gibson-Les-Paul tritt in einen hirnschlagverursachenden Dialog mit dem Lärm von fast zehntausend Hysterikern, die sich gegenseitig bis fast zur Epilepsie hochpeitschen. Den Kameramännern bricht verdampfender Schweiß aus, sie halten drauf im Gefühl, Zeuge einer Entfaltung unglaublicher Wut zu werden, einer Bedrohlichkeit der Masse, wie man sie seit den Jahrzehnten der politischen Agitationspropaganda für abgetötet hielt.
Mittlerweile hat jeder das Motto erkannt: Das ist ›Sleep‹, der klanggewordene Horror. Und diejenigen, die ›Sleep‹ schon auf der Platte gehasst haben und sich eventuell vorgenommen hatten, aufs Klo zu gehen, wenn es im Konzert zu ›Sleep‹ kommen sollte, sind davon wehrlos überrascht worden wie von einem Tsunami.
Kurz bevor das unerträgliche Lärmchaos in entweder zielungerichtete Gewalttätigkeiten oder verwirrt-überforderte Erschlaffung absacken kann, zieht Nick die Kurve hoch, indem er mit stetem Backbeat dem heulenden Homunkulus so etwas wie eine stützende Wirbelsäule verpasst.
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