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HalbEngel

HalbEngel

Titel: HalbEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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dass ein guter Gitarrist immer nur eine einzige Gitarre benutzt.
    So ungewöhnlich ist das gar nicht. Viele von den alten Bluesmusikern aus den dreißiger und vierziger Jahren hatten auch nur eine einzige Gitarre, weil sie sich nur eine leisten konnten. Mir gefällt das, dieses Gefühl von Unersetzbarkeit und Aufeinanderangewiesensein. Ein Mann sollte nur eine Frau haben, nur ein Haus, nur einen guten Freund und nur eine Gitarre. So sehe ich das. (Lacht.) Zwei paar Unterhosen sind aber okay.
    Eine Frau hast du. Du bist verheiratet.
    Ja, noch. Auf dem Papier. Das war überhaupt nichts. Sie ist abgehauen, als das mit der Musik ins Rollen kam. Eine Frau, die abhaut, wenn ihr Mann zu leben beginnt, das ist nicht die Richtige in meinen Augen. Ich wünsche ihr alles Gute, ehrlich, aber die Scheidung ist unterwegs, und dann soll sie von mir aus das ganze Geld haben, das ich ohnehin nicht brauchen kann, und ihrer Wege gehen. Sie ist noch nicht ’mal zwanzig, sie wird bestimmt noch viele Männer finden. Bessere als mich.
    Dann hast du keine Frau mehr, noch kein Haus, wahrscheinlich in diesem Business auch keinen echten guten Freund, sondern nur noch deine Gitarre.
    Ist doch gar nicht schlecht. Vielleicht bin ich der letzte Wanderin’ Bluesman der dreißiger Jahre.
    Aber du hast immer nur in Bands gespielt, warst immer Teil eines größeren Ganzen. Du warst niemals ein wandernder Einzelgänger.
    Das stimmt. Ich bin immer davon ausgegangen, dass ich nicht alleine bin auf der Welt, dass ich mich irgendwie sozialisieren muss. Ich mag die Wechselwirkungen, die meine Gitarre mit den Instrumenten der anderen hat. Es gefällt mir, dass Utah und Nick und Hall Instrumente spielen, die ich niemals meistern könnte, und dass wir so viel mehr machen können, als ich alleine das könnte. Am besten ist die Musik von Mercantile Base Metal Index immer dann, wenn ich selbst nicht genau verstehe, wie dies oder das entstanden ist. Dann sind die Töne jenseits von nur menschlich, und jeder, der sie hört, wird wie ein Albatros. Das ist dann die Brücke, die ich meinte, die ›Bridge Over Troubled Water‹. Wir sind nur die Architekten, wir machen nur das Angebot. Die Nachfrage, die Wirkung und die Folgen liegen ganz allein bei euch.
    Im Moment scheint die Nachfrage ja gewaltig zu sein. Wie aber siehst du eure Zukunft? Werdet ihr wie die Stones sein und im Rentenalter immer noch touren, oder werdet ihr euch irgendwann mit großem Donnerwetter splitten und jeder wird Einzelprojekte verfolgen?
    Wer kann das wissen? Ich glaube nicht, dass wir so alt werden wie die Stones . (Lacht.) Allerdings würde ich den Gedanken hassen, dass wir uns irgendwann trennen und dann ein Jahrzehnt später eine Reunion durchziehen, um noch mal ganz groß abzusahnen. Mich kotzt dieser Aspekt der Neunziger an. Alle Zombies kommen wieder hoch, um ihren Teil vom Kuchen abzugraben. Wenn wir nicht aufpassen, verwandeln sich die Neunziger in der zweiten Hälfte vielleicht doch wieder in die Achtziger zurück. Aber noch ist es ja nicht so weit. Noch können wir etwas dagegen tun. Wir können versuchen, gute Alben zu machen und noch bessere Konzerte. Denn eigentlich sind wir eine Live-Band. Du musst uns auf der Bühne gesehen haben, um uns richtig zu erfassen.
    Am 18. Juni in Chicago, und von dort aus dann in jedem Wohnzimmer mit Videorecorder.
    Vergiss den Video-Scheiß. Sei am 18. Juni in Chicago. Dort setzen wir den Maßstab. Es ist nicht dasselbe, ob du eine Videoaufzeichnung vom Ausbruch des Mount St. Helens siehst, oder ob du direkt vor dem Berg stehst und miterlebst, wie er Milliarden Tonnen Asche in den Himmel spuckt. Es gibt nur eine Form von live, nämlich wenn du am Leben bist und da.

Der sechste von zwölf Rhythmen
     
    18. Juni. Chicago.
    Das ganze Kontinuum vibriert.
     
     
    Das ist ein unglaubliches Geräusch: das Füßetrampeln und Kreischen von mindestens zehntausend Menschen, das sich in den verwinkelten Korridoren und Katakomben des Backstage-Bereichs bricht und verliert und plötzlich, wenn man um eine neue Ecke biegt, aus anderer Richtung wieder über einen herfällt. Dieser Lärm ist wie ein Tier. Und es ist frei, es ist ausgebrochen.
    Die Vorband – eine noch unbekannte Formation aus Chicago namens The Slither Grit – ist fertig, was da draußen jetzt schreit, ist die Antizipation der Masse. Der Regisseur bringt seine Videocam-Männer in Stellung. Timmen hatte ihnen untersagt, die Band schon hinter der Bühne zu filmen, wie sie sich dem Stagescreen

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