HalbEngel
Schließlich kommen Utah und Hall noch als Sanitäter dazugeeilt, Utah salbt sogar mit ein paar wunderschönen, auf Platte nicht vorhandenen Harmoniebögen. Die Beleuchtung wandert so, dass Floyd irgendwann scheinbar zusammengebrochen und weg ist. Utah und Hall machen noch eine Zeitlang weiter und werden dann ebenfalls im Dunkel zugenagelt.
Nur noch Nick ist jetzt zu hören. Er breitet das unerschöpfliche Arsenal seiner atemberaubenden Fähigkeiten aus wie ein exhibitionistischer Präzisionschirurg. Länger als sechs Minuten zieht er ein epochales Solo hin, in dessen Verlauf er all die während ›Sleep‹ entstandenen Scherben zusammenkehrt und sich – ganz langsam die Seelen der Gestorbenen zu Menschen umknetend – in fast unmerklicher aber unwiderstehlicher Schräglage auf den Grundbeat von ›Ten Candles‹ hinbewegt, in das dann schließlich Utah und Hall einschnappen. Der verschollen geglaubte Floyd taucht auch wieder auf und pickt destruktiv auf seinen Saiten herum, während die Kameras um ihn herumrennen wie Hühner, und ›Ten Candles‹ wird ein rauschendes, fast zehnminütiges Fest für alle, die gerne tanzen, ohne zu wissen, ob ihnen nicht im nächsten Augenblick der Boden unter den Füßen weggezogen wird und sich entweder in ein jugendfreies Schwimmbecken oder ein weitaus interessanteres Fegefeuer verwandelt.
Als Nächstes gibt es eine kleine Pause. Nicht etwa, weil die Bandmitglieder so erschöpft wären, dass sie unbedingt eine Pause bräuchten, im Gegenteil – sie sind jetzt ready to kill. Aber eine derartige Zäsur ist prima geeignet, die hilflosen Zehntausend wieder ein wenig zu sich selbst finden zu lassen, sie in Sicherheit zu wiegen und in der Illusion, alles verarbeiten zu können, ihnen Gelegenheit zu geben, in Ruhe eine zu rauchen und sich vielleicht mit anderen auszutauschen, bevor die zweite, gefährlichere Etappe der Reise beginnt.
Utah, Floyd, Hall und Nick gehen während der Pause gar nicht in die Eingeweide der Backstage zurück, sondern warten direkt neben der Bühne, Mineralwasser trinkend und gurgelnd, Handtücher über die Nacken gehängt. Sie sprechen kaum miteinander, nicken nur und grinsen wie Verschwörer.
Der Gig lief bis jetzt ziemlich genau eine Stunde. Halbzeit, bis jetzt alles so, wie Slet und Donn es geplant haben (von hundert bis hundertundzwanzig Minuten Spieldauer der Cassette war die Rede, genauso wie von dem Arbeitstitel ›To Be On the Free Market‹ die Rede war), aber wenn es wirklich ans Eingemachte ging – und danach sah es jetzt aus –, dann waren alle etwaigen Vorgaben der Managementabteilung natürlich nicht mehr von Bedeutung. Eine Band ist eben nicht nur eine Band, sondern auch eine Art von Gang, und ein Manager mag zwar eine Respektsperson sein, wie zum Beispiel der Streetworker im von Kriegen zerfurchten Gangland, aber richtig dazugehören zur Gang kann er nie.
Der Roadie, der Floyds Vertrauen so weit besitzt, dass er sich um die Les kümmern darf, hat den Schweiß von Lauf und Brett gewischt und gibt sein Okay. Geduckt wetzt er in Gegenrichtung von der Bühne. Als goldener Reflex ist irgendwo über den Köpfen der Massen der Kamera-Schaukel-Schlitten zu sehen, wie er – als Karusselgondel um sich selbst rotierend – auf gutgeölten Kufen dahingleitet, um vaporisiertes Leben über dem Grund abzufangen wie eine Mücken jagende Schwalbe. Diesmal geht Floyd alleine auf die Bühne. Der Jubel der Menge schlägt wie ein feuchtes Saunahandtuch um seinen Leib. Er muss fast nach vorne gelehnt gehen, wie gegen einen Sturm.
Er nimmt sich die Les, dreht dann ein wenig wie bei einem Soundcheck an seiner Effektbox herum, bis er den Klang hat, den er suchte: orgelnd und mit Vibrato auf den tieferen, klar und kalt und schneidend auf den höheren Registern. Er lehnt sich nach vorne, bis seine Haare das altmodische Mikro bedecken, und erzählt mit leiser, heiserer Stimme etwas davon, dass Jesus von den Toten auferstanden ist und also jetzt ein Zombie ist. Das, was er jetzt spielt, nennt er folgerichtig den ›Zombie Jesus Blues‹. Die einzelnen Zeilen – Jesus came back sherowwwwwmm from-the-Dead booowwwn-wickwickwickwaaaaaawwwwwrrrrrrr so what so what so what yeeeeeeaaaaryarryarryarryarr does that maaaayyyyyykkkkk haaaayyyyyymmmm? – werden ab und zu angereichert mit einem rhythmischen Zwischenruf wie »Mercantile!« oder auch vollständig »Mercantile Base Metal Index settin the stand!«. Floyd füllt die ganze große Halle aus, bis selbst die Rotation
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