HalbEngel
anfängt alles kurz und kleinzuschlagen und Blut zu fordern wie im – dies hier ist wie dies hier ist genau wie das allererste Mal.
Nick geht an ihr vorbei, ohne sie wahrzunehmen. Sie fühlt sich zu schwach, sich ihm bemerkbar zu machen. Sie muss jetzt dringend aufs Klo, und nicht nur für kleine Mädchen. Nick ist von unten aus zu sehen, es gibt keine Verschleierungen, die Leute jubeln ihm zu, erkennen ihn als einen von denen. Nick winkt lässig mit einem Stick in Richtung Saal und zwängt sich zwischen den ganzen Schlagkörpern durch in den Pilotensitz seiner Schießbude. Eine furchtbare Minute vergeht, in der überhaupt nichts passiert, außer dass die Reißzähne derer da unten langsam anfangen, immer länger zu werden, dann endlich – und es ist wirklich wie eine Erlösung, aller innerer und äußerer Druck fällt plötzlich von Utah ab – beginnt Nick übergangslos mit dem hypnotischen Breakbeat des Stücks, das sie extra für den Auftakt dieses Konzertes geschrieben haben. Es heißt ›The Herd‹, was aber nur ein galliger Arbeitstitel ist, denn zu kaufen sein wird das Teil sowieso nirgends, es sei denn natürlich auf dem Konzertvideo. Es ist ein Dancefloorhythmus. Eine der unheimlichsten Ideen von Floyd: Beginn ein solches Konzert mit einem Stück, zu dem die Leute da unten alle ihre Spannungen abtanzen können, und du hast sie für den Rest des Abends da, wo du sie haben willst. Dankbar an deinen Lippen hängend.
Halloran taucht neben ihr auf, er hat den Bass umgehängt – hatte natürlich nicht genug Vertrauen zur Offenheit des Bühnenraums, um ihn dort von einem Roadie abstellen zu lassen –, und seine bewusstseinserweiterten Augen leuchten jetzt wie Hitchcocks Glühbirne in Cary Grants Milch. Sie umarmen sich, er geht im neuerlich aufwallenden Kreischen raus, und ›The Herd‹ bekommt passend zum Rhythmus einen monotonen, aber absolut zwingenden Dub-Bass verpasst. Die ersten Leute werden wahnsinnig, dabei ist noch gar nichts passiert. Der HalbEngel ist noch weit, aber einige bekiffte Dreadlockträger sehen ihn schon überall, unter anderem überlebensgroß über der Bühne schwebend.
Utah lächelt jetzt. Die Musik ist ihr Hirte. Jetzt kann nichts mehr schiefgehen, sie findet sich zurecht. Sie geht raus auf die Bühne, winkt und nickt den Tausenden im Dunkel lächelnd zu, findet sich durch neben ihr elektrisches Piano – ein echtes hätte bei den Soundzuständen in so einer Halle keinen Wert gehabt –, greift sich ihre Rickenbacker, schlüpft zwischen Gurt und Körper durch und fängt an zu spielen, sehr verhalten, sehr langsam, es geht noch nicht um Aktionen, jetzt bekommt ›The Herd‹ erst mal eine magische Melodie verpasst, die wegen der verhallten elektrischen Saitentöne nicht langweilig wird, auch wenn sie erst mal zweiunddreißig Takte lang wiederholt wird. Minimale rhythmische Variationen, aber von derselben mitreißenden Monotonie wie gesampelte Melodiefetzen im schwarzen Bereich. Die Leute tanzen mit der Langsamkeit von Bären, schütteln ihre Mähnen aus, und in der Auflösung von Spannung baut sich eine neue auf, denn alle ahnen nun, dass die Leadgitarre noch fehlt, und dass also die Leadgitarre der Erlöser ist und dass der Erlöser jede Sekunde zu ihnen kommt.
Und er enttäuscht sie nicht. Begleitet von zwei Kameramännern mit verschiedenen Sichtweisen der Dinge betritt Floyd fast schüchtern von der Seite her die Bühne. Er hat den Kopf gesenkt und sieht der durchgehenden Menge nicht in die jetzt alle identischen Gesichter, er begegnet dem Bewurf mit Tausenden verschwitzter Traumprojektionen ohne die Attitüde des siegreichen Strahlemanns. Dies ist schließlich kein Konzert für heulkrampfgeschüttelte Teenager. Dies hier ist die Blade Runner -Generation. Die Träume der Menge sind keine vom Kuscheln und BeMyDreamBoyAndStayForeverWithMe -Sülze, es sind diese Träume des »Wir wissen nicht weiter und Gib uns einen Tipp«, vielleicht.
Utah registriert mit Erstaunen, dass Floyd sich auf das mutige Experiment eingelassen hat, die Hälfte der Bühne ohne den Schutz seiner Les überqueren zu müssen, die in der Mitte in einem Stahlstativ steht. Tatsächlich wirkt es so, als hechte er sich auf den letzten Metern seinem geliebten Instrument entgegen, aber genau das sollte ja wohl auch rüberkommen. Ein Mann ist nichts ohne seine Gitarre. Ein Engel ist nur ein Penner ohne seine Flügel.
Floyd reißt die Les an sich und sägt sich wie ein Kamikazeflieger in den astreinen Groove.
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