HalbEngel
ist jetzt längst überschritten, aber wen außer Donelli kümmert das schon, und den kann jetzt ja keiner hören. Die Kids toben, ziehen sich mit zitternden, dünnen Armen in schlabberigen T-Shirts auf die Bühne hoch, tanzen dort schweißspritzend ab und stagediven sich dann so weit und hoch fliegend wie möglich in das schäumende Meer aus Armen und Händen zurück, wo sie lachend umherkraulen, mal in die eine, dann wieder in Gegenrichtung beschleunigt, bis sie irgendwo abtauchen und vergessen werden oder wieder auf die Bühne geschleudert kommen und das ganze Spiel von vorne beginnt. Ordner haben alle Hände voll zu tun, haben aber nur zwei Hände. Keine Chance. Die Kameramänner wechseln fluchend aber begeistert Magazine wie bei einem Shootout. Einer der Beleuchter wirft sich von ganz oben auf die Menge und überlebt. Eine von Nicks Drumskins zerreißt blutend. Utah und Floyd, die beide ihre Hände, die aussehen, als seien sie durch Stacheldrahtgestrüpp gerissen worden, in den aufgespleißten Saiten verborgen halten, feuern sich gegenseitig noch mal an und bringen dann das ganze sinn(lich)bild(liche) Haus mit einer letzten Streuung Munition zum Einsturz. Der Lärm des Jubels spottet selbst der Richterskala.
Die Band hinter der Bühne. Sie werden gewaschen, gesalbt, ihre Körper wie verdurstet. Dann noch eine Zugabe, sonst gibt es Tote da draußen.
Floyd kündigt die Zugabe an mit den Worten »The following song could have been entitled ›Sail on Silverbird‹, but wasn’t.« Es ist, natürlich, ›Bridge Over Troubled Water‹. Erst vor acht Tagen als Single veröffentlicht und damit genau das, was alle jetzt zum Abschluss hören wollen. Gemeinsamer Höhepunkt, eine traumatisch langsame, akustische Version, obwohl Floyd elektrisch spielt, sich dem Unplugged-Quatsch verweigernd. Die sich selbst in ihrem Nimbus von Verweigerung bestätigt sehende Menge dankt. Floyds Erkenntnisprozess macht noch einen Sprung weiter: Er ist jetzt Pop, er ist jetzt das, was er früher immer sein wollte, und er kann jetzt so deutlich spüren, als schwebte er über sich und sähe auf sich herab, dass das, was er immer wollte, nicht mehr das ist, was er jetzt will. Dinge verändern sich, wachsen, reifen heran oder verwelken auch. Die Musik war ein Mittel, um aus all dem dort herauszukommen. Jetzt ist sie das nicht mehr. Kein Mittel mehr. Mehr.
Er sieht ›Bridge Over Troubled Water‹ eingerahmt von den beiden anderen unsterblichen Balladen der auf schwarz basierenden weißen Emotion, ›Whiter Shade of Pale‹ und ›The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore‹. Er sieht alles an seinem Platz. Außer sich selbst.
Hinterher:
Nach dem Reaktionenhagel, in einem Stadium äußerster, fast schon entfesselter Erschöpfung, sagt Floyd leise zu den anderen: »Also wenn es nach mir geht, könnte das hier unser letztes großes Konzert gewesen sein.«
Das ist natürlich nur so dahergesagt, muss nur so dahergesagt sein. Die anderen lächeln, und Wayland Donelli und Mel Sletvik klatschen ihm grinsend auf die Schultern.
In den folgenden zweieinhalb Monaten geben Mercantile Base Metal Index noch vierzig solche Konzerte in vierzig verschiedenen Städten. Das Chicago-Video wird in dieser Zeit noch nicht veröffentlicht, denn das würde nur die Neugier nach Unerhörtem und damit die Nachfrage nach Karten absenken. Erst am 15. September, nach der kleinen MBMI -Europa-Tour, erscheint es unter dem Titel Chicago Meat Market und verkauft sich außerordentlich gut.
Der siebte von zwölf Rhythmen
AUSVERKAUFT in verschiedenen Sprachen.
Dies war jetzt ein September.
Um genau zu sein: Paris.
Ein trockenes Leuchten lag über der Stadt, ein Leuchten, das Licht und Schatten ohne Übergänge voneinander schied und die Seine tanzen ließ, als wimmelten Millionen von Goldfischen darin.
Die Band war nur drei Tage und drei Nächte in der Stadt, zu zwei brechend vollen Konzerten in einem relativ kleinen Club. Das war die Europatournee von MBMI : zweimal London, einmal Edinburgh, zweimal Paris und einmal Berlin. Damit waren die Länder mit den größten Musikmärkten abgedeckt. Utah hatte noch in Rom spielen wollen – um das echte Kolosseum einmal sehen zu können –, aber das hätte zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts gebracht. Abgesehen von den United Kingdoms war MBMI bislang in Europa noch nicht so der große Hit, aber das Geld und die Lust für diese kleine, fast als secret bezeichenbare Tour waren da gewesen, und so hatte man sie
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