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HalbEngel

HalbEngel

Titel: HalbEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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aus der Hölle, wie drei von denen, die das Ende verkünden. Nick ist im Hintergrund in Bewegung, sein Oberkörper wirft sich spastisch hin und her, und etwas links tanzen noch immer Jerry und Alfonso wie eine Macho-Parodie auf fragile Backgroundsängerinnen und bearbeiten aufgekratzt ihre einfachen Percussions.
    Langsam wird deutlich, wo MBMI ihre Wurzeln haben. MBMI war niemals ein Aufspringen auf den ins Verlorensein durchratternden Grunge-Mania-Zug, niemals nur eine Trotzreaktion auf die leichenstarren Achtziger und die kalte Digitalisierung der Welt, und am allerwenigsten war MBMI jemals eine traditionsbewusste Fortführung der Hardrock-Heavy-Metal-Crossover-Entwicklung. MBMI ist eine Blues- und Gospelband, ins transzendentale verzerrt und mit dem Lärm des Armageddons aufgepumpt, aber in tiefster Hinsicht als weiße Würdigung der afroamerikanischen Musikkultur und des daraus hervorgehenden Welterbes zu verstehen. Dafür stehen Floyd, der von Reggler in den alten Bluesmeistern unterrichtet wurde, Utah, die mit Bluesharp und elektrischer Acoustic bewehrt durchs Land gezogen ist, und Nick, der einfach jazzy ist. Halloran fällt ein bisschen raus, ist am ehesten noch ein Metal-Poser, aber er ist gut, und er liebt die Band, ohne zu hinterfragen, was er da eigentlich liebt und warum. Er ist Praktiker, kein Theoretiker, und das ist alles, was MBMI von einem Gangmitglied verlangen kann.
    So langsam reißt Floyd ›The Cross‹ herum, bis die beiden roh aneinandergenagelten Balken zu splittern und schließlich zu bersten beginnen. Floyd schleudert ein ganzes Trommelfeuer von ›Cross‹-Fragmenten über die Köpfe der Gemeinde hinweg ins auflodernde All. Es ist kein Open-Air-Konzert, aber vielen ist, als könnten sie den Himmel sehen.
    Auch die Band zerbricht jetzt. Unter dem Jubel Tausender von Kehlen und Händen verlassen Jerry und Alfonso winkend die Bühne, während die eigentliche Band weiterschuftet. Utah und Floyd dreschen auf ihre Saiten ein, nur den Eingeweihtesten werden so nach und nach die melodischen Grundzüge von ›Market‹ einsichtig, und sie erwarten – zurecht – das Schlimmste. Minutenlang ziehen die beiden E-Gitarristen ein vage zwölftaktiges oder explizit zwölftaktisches Ringen durch, das die headbangende Masse unten an den Rand des kollektiven Schleudertraumas führt. Halloran steigt als Erster aus. Scheinbar wütend wirft er seinen Bass in die Ecke und stampft, seine wundgespielten Finger vorzeigend, von der Bühne. Floyd und Utah sacken mit dem ausbleibenden Rückgrat durch, fangen den Sturzflug kurz vor der Bruchlandung ab und verwandeln ihn direkt in einen vorher als solchen nicht zu erkennenden, mörderischen Außenlooping. Die Belastung für jedermann ist ganz außergewöhnlich. Die Sanitäter haben mittlerweile mehr als nur alle Hände voll zu tun, leblose, klatschnasse Leiber, die von den Händen der Menge ihnen entgegen durchgereicht werden, nachhaltig zu reanimieren. Zusammen mit Nick improvisieren Utah und Floyd gemeine, rhythmisch extrovertierte Riffs, die niemand mehr umschiffen kann. Nick donnert mit allen vier isolierten Gliedmaßen vier verschiedene Pushbeats, die vier willkürlich verschiedenen Fraktionen im Saal dazu dienen, vier verschiedene Slamdance-Tode zu sterben. Utah steigt aus, nachdem ihre Fingerbewegungen auf den Saiten so schnell geworden sind, dass ihr Herz im Vergleich dazu stehen geblieben ist. Obwohl sie den rätselhaften Wunsch verspürt weiterzuspielen, bis das Gitarrenbrett von ihrem eigenen Blut überspritzt ist, gibt sie der Erkenntnis nach, dass dies Floyds Nacht sein muss. Heute würde Floyd Sex haben mit zehntausend willigen Menschen. Sie hebt ihre nasse und glänzende Gitarre hoch ins überlastet flimmernde Scheinwerferlicht und taumelt im wallenden Jubelgetöse der Masse von der Bühne.
    ›Market‹ geht weiter. Nick und Floyd werden schneller. Floyd nuschelt ein paar Worte ins Mikro, die im Grunde genommen alles Mögliche bedeuten können. Nick schaltet schließlich um auf einen konstanten vierspurigen Breakbeat. Floyd geht so weit nach vorne an die Kante des haarigen Meeres, dass seine Zehen schon ins Nichts hinausragen. Während eines Zeitraums, der nur auf geschmolzenen Taschenuhren messbar wäre, erfindet er über Nicks treibenden Rhythmus eine Art Zwölftonmusik mit dampfender P-Funk-Beschichtung, irgendwo einzuordnen vielleicht zwischen Michael Nyman, Mark Ribot und Fishbone . Dann vollzieht er eine elegante Schleife. Er kippt oder senkt die

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