HalbEngel
Hexenkessel der Zehntausend in Chicago nun plötzlich in Übersee Clubs zu füllen, in die kaum fünfhundert Menschen reinpassten. Die Wucht der Musik wurde dadurch komprimiert wie in einem Dampfkochtopf mit sehr niedrigem Deckel. Die klaustrophobischen Räumlichkeiten wurden durch den elektrifizierten Klangrausch mit komprimierter Gewalt geladen. Besonders in Edinburgh fuhren die Temperaturen dermaßen hoch, dass kondensierter Schweiß von der Decke tropfte.
Paris war das größte Erlebnis, auch wegen der Sprachbarriere. In Berlin danach waren sie von einem kleinen und kultigen Club wegen der ungeheuren Kartennachfrage in eine größere Halle verlegt worden, deren Sound so miserabel war, dass das Konzert zum Downer wurde. Aber in Paris stimmte alles. Nick hatte schon vorher begeistert davon geschwärmt, wie diese Stadt den Jazz-Flair atmete (»Y’know, Miles and all that.«), aber auch die anderen konnten das, als sie erst mal da waren, spüren. Algerische und andere afrikanische Einflüsse tobten hier zusammen mit einer urwüchsigen normannischen oder bretonischen Folklore, die keltisch anmutete, aber auch der Grundstein für Cajun und Zydeco gewesen ist. Außerdem wurde alles, was aus Amerika kam, hier begeistert aufgesogen und nicht – wie in Deutschland – nur kopiert, sondern assimiliert. Die HipHop-Szene war in Paris am Brodeln, und selbst Nick musste zugeben, dass der französische Sprachfluss mit seiner manchmal ungeheuren Geschwindigkeit hervorragend zu dieser Musik passte, ja sogar ein aufregendes Element hinzufügte.
Floyd wurde von dieser Stadt in eine neue Krise gedrängt.
Alles ging von diesem sagenhaften Gefühl aus, das es bedeutete, Teil und sogar Kopf einer Art Terrorgruppe zu sein, die mit ihren Instrumenten von einem anderen Kontinent anreiste, um in einer Welt, deren Sprache man nicht verstand, das zu tun, was man am besten konnte, und dafür bejubelt zu werden von lauter mehr als fremden Menschen, die dann gar nicht mehr fremd sind, sondern dir eigentlich näher stehen und mehr mit dir gemeinsam haben als zum Beispiel die eigenen Eltern.
Floyd spürte in Paris eine merkwürdige Dissoziation zwischen sich und seiner eigenen amerikanischen Vergangenheit, so, als sei das alles bisher lichtleer und unwahr gewesen. Nick konnte ihm insofern ein wenig beistehen, als er sagte, dass dieses Gefühl viele große Jazzmusiker dazu veranlasst hätte, in Paris wohnen zu bleiben. Dies sei so etwas wie der Ruf der ganz alten Heimat. Was Schwarze für Afrika empfanden, mussten weiße Amerikaner wohl für Europa empfinden. Und Paris war die Verkörperung Europas.
Floyd kam sich auf merkwürdige Weise minderwertig vor, wie einer, der alles, was er kann, nur abgeguckt und gestohlen hat. Bei einem Spaziergang mitten in der Nacht im Montmartre fürchtete er einmal sogar, von Jugendlichen mit Steinen beworfen, beschimpft und geprügelt zu werden, aber nichts dergleichen deutete sich auch nur an. Im Gegenteil: Er wurde geliebt und hofiert, und diejenigen, die ihn auf der Straße erkannten, freuten sich, strahlten über die ganzen Gesichter und fragten schüchtern und höflich nach Autogrammen. Ihre Annäherungen waren so langsam, dass Floyd beinahe strauchelte.
Es war ihnen, der Gang, gelungen, eine Gang zu sein, die für das, was sie war und was sie anderen antun wollte, geliebt wurde.
Das war erschreckend.
Bisher hatte es immer zwei Fronten gegeben, gegen die ein junger Mensch ankämpfen konnte: einerseits das Establishment und auf der anderen Seite andere junge Menschen, die einem gefährlich werden konnten, die Rivalen waren. Wenn man, wie das bei Floyd mittlerweile der Fall geworden war, das Establishment als solches gar nicht mehr wahr- oder ernst nahm, bedeutete der Wegfall von Gegnern im eigenen Lager den Wegfall von Gegnern überhaupt. Besonders hier im Ausland wurden MBMI nur noch mit Leuten konfrontiert, die entweder nicht erkannten, wen sie vor sich hatten, und somit harmlos waren, oder die verehrten, was MBMI für sie bedeutete. Das war ein beunruhigender und ermüdender Zustand. In Amerika war man wenigstens noch von anderen Bands gedisst worden. Man hatte kaum eine Bewegung machen können, ohne dass irgendjemand öffentlich darüber hergezogen war. Hier jedoch kam man von so weit her, dass man den Status von Unberührbaren einnahm. Für Floyd verkehrte sich diese übertriebene Begeisterung ins Gegenteil: Er hatte das Gefühl, Mainstream zu sein – die schlimmste Beleidigung, die man einem
Weitere Kostenlose Bücher