HalbEngel
revolutionären Musiker versetzen konnte.
Die Luft und der abklingende Sommer in Paris.
Wie Schatten von Träumern schlichen sie durch die Steingassen. Die Glocken von Sacre Coeur trieben Tränen über Floyds blasses Gesicht. Utah schlief in der Schwebe in der Stadt der Liebe im vierten Arrondissement mit einem bunt gekleideten Troubadour aus einer anderen Zeit. Nick verlor sich für Stunden, an die er sich später nicht mehr erinnern konnte, hinter einem Vorhang, der unerklärlicherweise direkt an die Côte D’Ivoire führte. Halloran kostete von einem Mädchen, dessen Haut die Farbe von Sahnekaramel hatte, aber den Geschmack von wildem Honig, und deren Augen und Hüften einen Mann seekrank machten.
Wenige Stunden vor der Abreise nach Deutschland saß Floyd allein in seinem Hotelzimmer, hatte das Gesicht in den Handflächen geborgen und wusste, dass die Tage der Band gezählt waren, und dennoch noch nichts zu Ende war. Es hatte in der Geschichte von Mercantile Base Metal Index das »Year of Famine« gegeben. Dieses Jahr hatte damit begonnen, dass er, einen Monat nach Gründung der Band, Karen Linville geheiratet hatte, von der er rechtlich gesehen noch immer nicht geschieden war. Sie hatten Träume geträumt von einem Häuschen und einer Karriere in der Rockmusik. Dann war Utah dazugekommen, der Klang hatte sich verändert, war reicher geworden, das Loud Chameleon war farbenschillernd erschienen und hatte mit seiner klebrigen Zunge nach oben gezeigt. Das zweite Jahr, das »Year of Fame«, hatte mit der Veröffentlichung des Albums begonnen, mit Ripcage . Die Chamäleonmaschine war angeworfen worden. Die vielfältigen Ausprägungen des Star-Business waren wie ein Käfig von gesichtslosen Monteuren um ihn herum hochgezogen worden. Was jetzt als Nächstes noch kommen würde, waren die beschissenen Preisverleihungen. Oliver Stone höchstpersönlich hatte ein zweites, komplementäres Video für ›Goodbye‹ inszeniert. Überall im Land wurde an Remixes gefeilt. Ein abendfüllender Konzertfilm war abgedreht.
Auf einer nur anderthalbwöchigen Tournee in Übersee dämmerte das Ende.
Unfassbar. Unerklärlich.
Floyd wollte spielen, um sich selbst zu trösten, so wie ein Junge mit seinem Glied spielt, um die Welt um sich her versinken zu sehen. Aber er wusste nicht mal, wo seine Gitarre in diesem Moment überhaupt war. In einem müden Moment hatte er sich dazu beschwatzen lassen, sie dem Tour-Equipment einzugliedern, also war sie jetzt auf irgendeiner Autobahn Richtung Berlin unterwegs. Wenn er jetzt die beste musikalische Idee der Weltgeschichte gehabt hätte, hätte er keinerlei Möglichkeit gehabt, sie irgendwie umzusetzen.
Er hatte seine Hände verloren, sein Herz.
Seine Flügel.
Das konnte doch alles unmöglich sein, sagte er sich.
Hatte er nicht jetzt viel mehr Möglichkeiten als früher?
War er nicht reich? Auch wenn er seinen augenblicklichen Kontostand nicht kannte – flossen nicht in jeder Minute für irgendeine irgendwo auf der Welt verkaufte Pressung von Ripcage Tantiemenanteile in seine Richtung? Bedeutete größere finanzielle Unabhängigkeit denn nicht größere Unabhängigkeit? Konnte er nicht zu einem Telefon gehen, Sletvik anrufen und ihm klarmachen, dass er nächste Woche ein Studio bereithalten solle, damit Floyd die vier oder fünf neuen Ideen, die ihm bleiern im Hirn rumschmerzten, in die Freiheit entlassen konnte? Saß er nicht hier, in dieser wunderbaren, lebendigen, von den Luxuriösitäten der Sinne nur so prangenden Stadt und gefiel sich in einem schwächlichen Anfall von Selbstmitleid? War das nicht schon dekadent? Er war doch nie einer von diesen halblebigen, schwachbrüstigen Intellektuellen gewesen, die sich Existenzialisten nannten, lieber dicke Bücher lasen, als dicke Titten in den Händen zu kneten, und die bei jedem einzelnen Ton seiner elektrischen Ejakulationen vor Entsetzen gestorben wären. Er wusste doch um seine Kraft. Er wusste, wo seine Macht lag. Er war Floyd Timmen, der Floyd Timmen.
In einem Maße, das vorher nicht abzusehen gewesen war, war alles schwieriger geworden, seit er der Floyd Timmen war.
Berlin war – wie bereits gesagt – ernüchternd im Vergleich zu Paris. Floyd hatte seine Les Paul und auch seine Lakewood wiedergefunden, und er ließ beide nicht mehr aus den Augen wie ein Hund seine Fressknochen. Backstage nach dem ziemlich lausigen Konzert wurde Floyd ein Mann vorgestellt, der als »erfolgreichster Rockmusiker Deutschlands« galt und
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