HalbEngel
des Karussells da oben stoppt, er spielt den elektrischen Blues, er gibt der Farbe Blau neue Nuancen, er geht heim nach Süden, der verrottet wurmstichige Christus dreht sich tanzend im Kreis, Töne legen sich übereinander und reiben sich lüstern wund, Floyds Kreischen geht unter in den Wehen der Geburt, zehntausend oder mehr delirieren dicke Lavatropfen, die von den Saiten aus in alle Richtungen spritzen und zischende Löcher in den Raum-Zeit-Komplex brennen, bis dadurch das weiß blendende Nachleben mit tosendem Echo sich nach vorne stülpt und alles in sich mitreißt zu turmmuschelschneckiger Verzerrtheit. Den letzten Ton lässt Floyd so lange verhallen, dass vielen vor Sehnsucht nach mehr und dem neuen Empfinden von Ferne und Verlorenheit des Klanges das erbärmliche Heulen kommt. Was im Moment ist, kann niemals wieder sein, selbst aufgezeichnet nicht, denn dann entbehrt es der Aura des originalen Moments. Dies, dieses Jetzt, ist der Mittelpunkt eures Daseins, der Moment, von dem aus alle Vergangenheiten, Zukünfte und Himmelsrichtungen ausstrahlen wie das Licht von der Sonne.
Utah und Hall und Nick haben sich auf die Bühne geschlichen und geben ein verhalltes ›Legless Bird‹ zum besten, das Floyd mit der brüchigen Stimme eines lungenkrebskranken Chansonniers mit Worten begleitet. Die Version ist so anders, so kaputt, dass nur vereinzelt die vorbereiteten Lichterchen aufflackern. Die meisten sind zu irritiert, den Song überhaupt zu erkennen. Da Utahs Stimme im Refrain jetzt lauter ist als die von Floyd, haben einige den Eindruck, die Auslöschung eines Musikers live mitzuerleben.
Aber das ist natürlich nur Show, ist nur eine weitere Stufe des einwärts reichenden MBMI -Sabbats. Nach einer Minute erneuten Soundcheck-Testings, das die Spannung hochkitzelt auf was auch immer da gleich draus entstehen wird, und nachdem zwei Roadies als Gastmusiker die Band verstärkt haben (einer von ihnen hat eine Rumbagurke mitgebracht, der andere eine Tambourinrassel), kommen ein paar Riffs, die auf unglaubwürdige Weise vertraut sind, nicht nur vertraut wie die Lieder von Ripcage , sondern noch viel tiefer drin, und intimer zum Beispiel als die ebenfalls bis zum Erbrechen wiederkäubare Nationalhymne. Es sind die originären Anfangsriffs von ›Gimme Shelter‹. Alles ist vorhanden: die hohen, bunte Bläschen werfenden Gitarren, das Schnarren der Rumbagurke, die dröhnenden Klavierakkorde, die hohe, schreiende Stimme (Utahs), das Herunterkommen von Gewicht auf die konsequente Strophe eins. Was folgt, ist eine Coverversion, wie man sie in dieser Linientreue einer Band wie MBMI bestimmt nicht zugetraut hätte. Utah bringt das Kunststück fertig, gleichzeitig das Piano zu behämmern und eine durch Halsstativ umgeschnallte bös verzerrte Mundharmonika zu spielen. Die beiden Roadies – wilde Burschen mit endzeitmäßig verfremdeten Langhaarfrisuren – machen ihre Sache ganz ausgezeichnet und schnarren beziehungsweise rasseln sich tanzend die Seelen aus dem Leib. Die zwei sind eine Show für sich und werden von Floyd auch mitten im Song lachend vorgestellt: Jerry und Alfonso. ›Gimme Shelter‹ rockt jetzt richtig los, Utah begeistert mit ihren beachtlichen stimmlichen Qualitäten als Soulshouter, während Floyd mit seiner Les die Grenzen verschwimmen lässt zwischen straightem Rhythm’n’Blues und psychedelischem Alternative-Rock. Ein Brückenschlag über eine Generation nach hinten, aus dem Wissen um die gemeinsamen Roots entstanden. Scheiß auf die Achtziger, Mann, das war totgeborener Fisch.
Floyd lässt eine Melodie einfließen ins sicher und heimatlich geglaubte Shelter, die ebenfalls wieder vertraut klingt, aber viel weniger als ›Gimme Shelter‹ und die Songs von Ripcage . Es ist ›The Cross‹, jene düster-apokalyptische Visions aus Princes einziger intellektueller Phase. Die Brücke ist zerbrochen und poltert mitten rein in die Angst der Achtziger. Peach meets Black . Utah verlässt ihr nun nutzlos gewordenes Piano, schmeißt die Harmonikahalskrause weg und greift sich ihre ESP-Gitarre. Gemeinsam mit dem shoutenden Floyd erzeugt sie dann das Gitarrengewitter, das ›The Cross‹ so auszeichnet. Wie sie und Floyd und Halloran so unbewegt vorne an der Rampe stehen und immer mehr Lagen von klanglicher Gewalt übereinandertürmen, bis der Lärm fast nicht mehr zu ertragen ist, wirken sie – von hinten beleuchtet als starre, erbarmungslose Silhouetten mit gewaltigen Waffen umgehängt – wie drei Sendboten
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