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Halbgeist: Roman

Halbgeist: Roman

Titel: Halbgeist: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam-Troy Castro
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Personen bis hin zu farbenfrohen Panoramen, die seine Kollegen bei der Arbeit in dieser kopfstehenden Welt zeigten. Er hatte auch ein Porträt von Warmuth angefertigt, auf dem sie mit geweiteten Augen und blassem Gesicht wie ein Straßenkind vor einem undefinierbaren, dunklen Hintergrund dargestellt wurde. Sie sah traurig, verletzlich und einsam aus: eine offenkundige Charakterisierung, die den Eindruck, den mir ihre übrigen Bilder vermittelt hatten, Lügen zu strafen schien. Auf der anderen Seite hatte er beinahe ein Dutzend Studien von Santiago zu bieten, angefangen mit dem Porträt einer Frau mit Zornesmiene, umrahmt von einem Nimbus aus rot glühendem Licht. Mir sagte auch das nichts. Doch als ich das Werk auf der Suche nach einer Antwort studierte, die es nicht zu bieten hatte, sagte er: »Die meisten Leute hier haben es nicht begriffen, aber das ganze Problem beruht nur auf der Unfähigkeit, einen fremdartigen Geist zu erkennen.«
    »Ich nehme an, wir sprechen nicht über die Brachiatoren.«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein. Christina. Für die Leute war es nicht einfach zu verstehen, wer sie war und was in ihr vorging; sie haben nur diese mürrische kleine Schlampe gesehen, die jederzeit bereit war, ihnen den Kopf abzubeißen, sollten sie ihr auch nur einen komischen Blick zuwerfen.«
    »Wie bei dem Vorfall mit Warmuth.«
    Er kicherte. »Richtig, und bei einem Dutzend anderer Vorfälle, die mir in Erinnerung geblieben sind. Mit Christina hat man sich nicht einfach verstehen können, man musste sie erleben.«
    »Und Sie sind der Ansicht, dass sie einen fremdartigen Geist hatte.«
    Er zeichnete einen Schnörkel in die Luft, dann noch ein paar Striche darunter und zauberte so eine gute bis mäßige Karikatur von mir hervor. »Ich habe den Verdacht, dass Sie durchaus eine recht genaue Vorstellung dessen haben, was ich damit meine, Counselor. Wenn man der Sache einmal auf den Grund geht, sind wir alle fremdartig füreinander, erzogen auf der Basis einiger allgemeingültiger Grundsätze, davon abgesehen aber beherrscht von Paradigmen, die wenig mit denen der Leute um uns herum zu tun haben. Das Tragische an der Sache ist, dass wir dazu neigen, andere nach Maßgaben zu beurteilen, die aus unserer Sicht absolut sinnvoll sind, die für besagte andere aber aller Wahrscheinlichkeit nach vollkommen irrelevant sind. Das machen Sie gerade mit mir, obwohl Sie es hervorragend zu verbergen wissen, und das haben die meisten Leute mit Christina gemacht. Nach den Maßgaben ihrer eigenen Welten, ihrer eigenen Köpfe, war sie eine unerträgliche Person. Tatsache aber ist, dass sie sich ihnen gegenüber so sozial verhalten hat, wie sie es gelernt hat.«
    Der Unfehlbarkeitsanspruch dieses Mannes fing an, mich zu ermüden. Mein Gähnen, ein weiteres in einer ganzen Reihe von Symptomen, die darauf hindeuteten, dass mein Post-Interschlaf-Zusammenbruch unmittelbar bevorstand, wäre womöglich auch am energiegeladensten Tag meines Lebens unvermeidlich gewesen. Aber ich erholte mich wieder. »Was war sie also? Lediglich ein bisschen linkisch im zwischenmenschlichen Bereich?«
    Ein weiterer Schnörkel. »Denken Sie an ihren Werdegang. Ihre Welt hat ihre gesamte Bevölkerung über Generationen verpfändet. Ihre Familie kannte kein Morgen, das nicht Teil einer endlosen Wiederholung des Heute gewesen wäre, keine Träume, die darüber hinausgegangen wären, am Schichtende nach Hause zurückzukehren, keine Alternativen zu der mahlenden Verzweiflung und der ergrimmten Loyalität gegenüber dem einzig möglichen Arbeitgeber. Ihre Rechte waren so sehr beschränkt, dass sie nicht einmal eine Familie gründen konnten, ohne zunächst nachzuweisen, dass sich das nicht nachteilig auf die Produktivität auswirken würde. Ich glaube, sie hatte nicht die geringste Vorstellung von Freizeit, ehe sie hierhergekommen ist. Es spricht klar für ihre Unabhängigkeit, dass sie sich aus dieser Welt hat herauskaufen lassen, kaum dass sie imstande war, einen Käufer aufzutreiben, aber bis dahin hatten bereits alle möglichen Gewohnheiten Fuß gefasst, und so hat sie bei ihrer Arbeit für das Corps genau die Verhaltensmuster offenbart, die sie zu Hause gezeigt hat, und die lauteten zufällig: Halte dich bedeckt; schließe keine Freundschaften; vertraue niemandem; stell Anweisungen nicht in Frage; unterdrücke alle persönlichen Empfindungen; konzentriere dich auf deine Arbeit und nur auf die Arbeit. Nach allem, was sie je gelernt hat, war das ein absolut

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