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Halbgeist: Roman

Halbgeist: Roman

Titel: Halbgeist: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam-Troy Castro
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angemessenes Verhalten. Aus der Perspektive aller anderen war sie eine hundertfünfzigprozentige Nervensäge. Beide Sichtweisen sind korrekt, wenn man ihren Ursprung betrachtet.«
    »Und doch«, bemerkte ich, »sagen Sie, dass Sie ihr etwas abgewinnen konnten.«
    »Das sage ich nicht nur, das habe ich.« Er projizierte ein Bild von Santiago, auf dem sie im Schneidersitz auf einer der Seilbrücken der Siedlung hockte, während der auf dem Kopf stehende Horizont One One Ones in der Ferne hinter ihr einen sanften Bogen beschrieb. Sie trug einen eng anliegenden grauen Overall, der an Hals und Handgelenken zugebunden war. Ihre Augen waren halb geschlossen, die Lippen schmal und frei von jeder Spur eines Lächelns, aber das Bild betonte die Wölbung ihrer Brüste; die Art, wie das Licht auf ihren Wangen tanzte, deutete darauf hin, dass zumindest Negelein sie für außergewöhnlich schön gehalten hatte. »Ich habe hier einen Kunstkurs gehalten, keine große Sache, aber wenn die Leute gerade frei hatten und nicht durch Gibbs Reifen springen mussten, war es eine nette Abwechslung für sie. Niemand hat dabei irgendwelche spektakulären Werke hervorgebracht, aber das ist schließlich auch nicht erforderlich, wenn es nur darum geht, zum eigenen Vergnügen künstlerisch aktiv zu werden. Christina hat den Kurs binnen zwei Wochen nach ihrer Ankunft auf der Station zum ersten Mal besucht. Sie kam immer ziemlich spät, um nicht in irgendwelche Gespräche verwickelt zu werden. Dann blieb sie eine Weile und ging früh, damit sie auch nach dem Kurs mit niemandem reden musste. Bei ihren ersten zwei Besuchen dachte ich noch, sie wäre wohl zu dem Schluss gekommen, dass das doch nichts für sie ist. Aber beim dritten Mal ist sie auf mich zugekommen, um mir unter vier Augen eine Frage zu stellen.«
    »Die lautete?«
    »Sie wollte, dass ich ihr erkläre, wozu Kunst gut ist.«
    Ich wusste nicht recht, ob ich darauf eine zufriedenstellende Antwort hätte geben können, da Kunst von mir abgleitet, als böte ich eine völlig reibungsfreie Oberfläche. Jedenfalls tat ich mein Bestes, um pflichtgemäß entsetzt dreinzuschauen. »Was haben Sie gesagt?«
    »Nun«, sagte er, »wenn Sie bedenken, dass Kunst einen großen Teil meiner selbst ausmacht, einen großen Teil dessen, was ich brauche, um geistig gesund zu bleiben, dann hätte ich ihr eine vernichtende Antwort entgegenschleudern können, um sie für ihre Ignoranz zu strafen. Etwa ein Dutzend solcher Antworten gingen mir durch den Kopf, ehe ich den Mund aufgemacht habe. Aber irgendwie erkannte ich noch rechtzeitig, dass sie die Frage in wohlmeinender Absicht gestellt hatte, und so sagte ich: ›Wenn du dich selbst künstlerisch betätigst, findest du es vielleicht heraus.‹ Bald darauf verabredeten wir uns zu Privatstunden.«
    »War sie gut?«
    Er verdrehte die Augen. »Ob sie gut war? Bitte. Gut hat damit nichts zu tun. Sie hat nie auch nur die Grundlagen für perspektivische Darstellung, Schattierung, Komposition oder auch nur Wahrnehmung begriffen. Da war nichts von dem, was einem sozialisierten Auge gestattet, einen Farbklecks oder ein Linienspiel zu betrachten und die Reaktion ›Oh, wie schön!‹ hervorzubringen. Sie konnte nicht einmal einen akzeptablen Entwurf anfertigen. Ihr Hintergrund lieferte ihr nicht einmal die nötigen Fähigkeiten, um die Bausteine zu erkennen. Möglicherweise war ihr eine grundlegende visuelle Schulung schon so lange versagt geblieben, dass sie nie imstande gewesen wäre, ein echtes Vorstellungsvermögen zu entwickeln. Aber es ging nicht darum, gut zu sein. Es ging darum, dass sie ihre Gefühle herauslassen konnte. Und während sie ein hoffnungslos primitives Stück nach dem anderen anfertigte, stolperte sie allmählich über Dinge, die sie wohl ausgesprochen hätte, hätte sie das Vokabular dazu besessen. Die Dinge, die ihr zu fremd waren, um sie gegenüber jemand anders zu benennen.«
    »Zum Beispiel?«
    Für einen Moment wurde Negeleins Stimme ganz weich, als er sich allem Anschein nach daran erinnerte, dass die Person, über die er sprach, tot war: »Wie es für sie gewesen ist, einen so großen Teil ihres Lebens in einem Käfig verbracht zu haben.«
    Seine Augen schimmerten feucht. Für mich stand außer Frage, dass er sie vor sich sah. Aber welche Christina Santiago? Eine wahre, die sich ihm offenbart hatte? Eine imaginierte Version, die er auf eine Frau übertragen hatte, die er kaum gekannt hatte? Eine Frau, die er geliebt hatte, oder eine, die er

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