Halbmast
zeitversetzt, weil die Schichten zwischen 6.30 Uhr und 8.30 Uhr im Abstand von je einer halben Stunde begannen, damit es bei den Massen von Arbeitern kein Chaos auf dem betriebseigenen Parkplatz gab. Die Illegalen arbeiteten nachts. Wo und wie sie das abgesicherte Werftgelände betraten, wusste so recht niemand, aber man vermutete, sie wurden durch das verdeckt im kleinen Waldstück liegende Tor E eingeschleust. Wie viele es waren, darüber konnten sie nur spekulieren. Es waren nicht wenige, das wussten alle.
Sie hatten mal aufgemuckt, damals, ein Jahr bevor der Großauftrag aus Amerika ins Haus kam und als Schmidt-Katter vierhundert Leute entlassen hatte. Das war fast ein Drittel der gesamten Belegschaft. Man hatte sich damals zusammengetan, weil man Solidarität demonstrieren wollte. «Lasst die verfluchten Subunternehmer weg, die stehlen uns die Arbeit!», hatten Marten und die anderen bei einer betriebsinternen Kundgebung gefordert.
Doch Wolfgang Grees, der damals schon nicht nur leitenderMechaniker, sondern auch Betriebsratsvorsitzender war, hatte ihnen mit ruhigen Worten erklärt, dass die Werft ohne die billigen Arbeitskräfte gleich ganz dichtmachen könnte. «Leute, wenn wir jeden Scheiß von deutschen Fachkräften machen lassen, dann können wir noch nicht einmal mehr eine Luftmatratze auf dem Weltmarkt verkaufen!» Mit hängenden Köpfen hatten die Arbeiter damals klein beigegeben. Irgendwie war sich dann doch jeder der Nächste. Und solange man die «Pfennigschwitzer» nicht sah, brauchte man nicht darüber nachzudenken.
Als Marten dann mitten unter diese Leute geriet, war er sowieso schon aus dem Rennen gewesen. Er hätte gleichgültig sein können, als er Svetlana und ihre Freunde kennen lernte. Doch das Gegenteil war geschehen. Sie hatten in ihm eine Wut ausgelöst, die sich nicht gegen die Familien Adamek, die Familie Majovic, die Familie Janowitz richtete, sondern einzig und allein gegen Schmidt-Katter. Gegen einen Betrüger und verdammten Augenwischer.
Schmidt-Katter betrachtete sich als Vater der Region und faselte in jedem Satz von Familien, Generationen und Zusammengehörigkeit. Wenn es aber drauf ankam, dann war ihm in Wirklichkeit ein Mensch nichts wert. Er hatte Svetlana sterben lassen.
In Martens Augen war Ludger Schmidt-Katter ein Mörder. Svetlana Adamek war zwei Tage lang krepiert. Ihr Vater hatte später erzählt, dass sie vor Schmerzen ohnmächtig geworden war, dass ihr Fieber auf über 42 Grad gestiegen war, bevor sie starb.
Und dass sie nach Marten gerufen hätte. Aber in der Familie und von den Freunden hätte niemand gewusst, wer er war und wo er wohnte oder wie man ihn erreichen konnte. Sie lebten alle zurückgezogen, niemand sollte wissen, dass sie hier in Deutschland waren und in den Docks arbeiteten,ohne Versicherung, ohne Arbeitserlaubnis, ohne irgendwas. Sie wussten nicht, dass Svetlana einen Deutschen kennen gelernt hatte. Vielleicht hätten sie ihr sogar den Umgang mit Marten ausgeredet, wahrscheinlich sogar verboten. Insbesondere, weil er bei Schmidt-Katter gearbeitet hatte. Er war eine Gefahr für die ganze Sippschaft gewesen. Und so hatte Svetlana vergeblich nach ihm gerufen. Erst als es schon viel zu spät war, hatte er an ihrem Bett gestanden, weil er sie besuchen wollte und weil sie nicht zur Verabredung gekommen war. Er hatte nun gewusst, wo sie wohnte, hatte im Mietshaus in der Mörkenstraße auf alle Klingelknöpfe gedrückt und über die Gegensprechanlage nach Svetlana gefragt. Schließlich hatte Robert Adamek die Tür geöffnet, seine roten Augen hatten richtig unheimlich ausgesehen. Statt zu fragen, wer Marten sei, hatte er gleich gesagt: «Sie sind Marten, aber Sie kommen zu spät.»
Der Motor lief wieder. Knapp neunzig Minuten nachdem die
Poseidonna
mit der Seite gegen das Werfttor gerammt war, liefen die Schiffsschrauben wieder ohne auffällige Geräusche. Wolfgang Grees war ein Könner auf seinem Gebiet. Wer immer sich anmaßte, der Schmidt-Katter-Werft mit Sabotage zu schaden, musste erst einmal an diesem Mann vorbeikommen. Die wenigsten wussten, dass dieser Mechaniker im Blaumann der wahre Held dieser Überfahrt war. Er war wesentlich wichtiger als der Kapitän. Sollte die
Poseidonna
sinken, was zumindest in Leda und Ems ohnehin nicht möglich wäre, aber sollte dieses Schiff eines Tages sinken, so würde Kapitän Pasternak in seinem schnieken weißen Anzug schon längst im sicheren Rettungsboot sitzen, während Grees bis zum letzten
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