Halbmast
getäuscht.Bislang hatte sie in ihr eine eher lästige und etwas stereotype Stewardess gesehen. Doch sie schien alles ganz gut im Griff zu haben. Ihr war keinerlei Unruhe anzumerken, obwohl sie sich um einen Passagier im Schockzustand zu kümmern hatte, ohne einen Arzt an ihrer Seite zu wissen. Obwohl man eben einen Toten gefunden hatte. Obwohl scheinbar alles drunter und drüber zu gehen schien. Ebba John blieb kühl und konzentriert.
Bis der Anruf kam. «Ebba John. – Ja? – Oh! – Und wie? – Ist gut!» Viel konnte Carolin diesem Telefonat nicht entnehmen, es war nur auffällig, dass die eben noch so Geistesgegenwärtige mit einem Mal geschäftig und nervös wirkte.
«Entschuldigen Sie mich einen Augenblick», sagte sie kurz darauf und verschwand mit zwei Männern von der Sicherheitstruppe.
Carolin drehte den Kopf zur Seite. Sinclair Bess im Nebenbett hatte ihr das Gesicht zugewandt, er war wieder etwas wacher und versuchte sich in einem schiefen Lächeln.
«Geht es wieder?», fragte Carolin und erschreckte sich vor der schleppenden Langsamkeit ihrer Worte.
«Ich überlege …» Der Mann musste husten. Tränen traten ihm in die Augen. Er sah Mitleid erregend aus. «Ich überlege gerade, ob wir unter diesen Umständen wirklich
Tod auf dem Nil
spielen lassen sollten.»
«Sie machen sich zu viele unnütze Gedanken, Mr. Sinclair.»
«Ich habe noch nie einen Toten gesehen», flüsterte er langsam und mühselig.
«Es sah wirklich schrecklich aus», bestätigte Carolin. Wie lange hatten sie die Leiche eigentlich angestarrt? Sie erinnerte sich noch, dass Sinclair Bess immer weiter geschrien hatte, bis unten drei Männer in das Atrium gerannt kamen, drei von der Security. Und dann ging alles sehr schnell,oder auch nicht sehr schnell. Carolin merkte, dass sie keine Ahnung hatte, ob die Männer Sekunden oder Stunden gebraucht hatten, bis sie bei dem toten Wolfgang Grees angekommen waren, ihn notdürftig untersucht hatten und schließlich per Funk nach Verstärkung riefen. Sie wusste nur noch, dass sie fotografiert hatte wie eine Wahnsinnige. Es mussten so viele Bilder sein, dass man die Aufnahmen hintereinander gelegt als Daumenkino abspielen lassen könnte. Bei all der Tragik dieses Momentes, es mussten gute Bilder geworden sein.
Wo war die Nikon? Carolin schaute sich um, soweit es aus der liegenden Position möglich war. Der Raum, in dem sie lagen, war ungefähr so groß wie ein geräumiges Einzelzimmer auf der Privatstation eines Krankenhauses, vielleicht zwanzig Quadratmeter. Alles hellgelb gestrichen, an den Wänden hingen schon ein paar Gemälde, die wohl eine beruhigende Aura verbreiten sollten, meditative Ölmalerei, ausgeglichenes Farbspiel, so etwas in der Richtung. Über ihrem Bett waren verschiedene Apparate angebracht, von deren Funktion Carolin keine Ahnung hatte, sie vermutete, dass man hier im Notfall eine Sauerstoffversorgung und Herz-Lungen-Maschine bereitstellen konnte. Displays zur optischen Überwachung der Körperfunktionen hingen daneben. Die
Poseidonna
verfügte über eine Klinik im Miniformat, dies hatte ihr Sinclair Bess bereits erzählt. Vor ein paar Stunden. Wie lange war es eigentlich her? Seit wann war die
Poseidonna
unterwegs? Carolin schaute auf die Uhr, die über der einzigen Tür im Raum angebracht war. Es war bereits zwanzig nach zehn. Und sie lag hier, regungslos. Wo waren sie eigentlich? Es gab in diesem Krankenzimmer kein Fenster zur Seeseite. Mussten sie jetzt nicht bald an diese Stelle kommen, wo die Brücke abmontiert wurde? Dann stand ihnen jetzt diese enge, spektakuläre Passage bevor,wenn das Schiff in die Ems einfuhr. Waren sie schon dort, wo man die vielen Schaulustigen am Flussufer erwartete?
Und sie stand nicht mit dem Fotoapparat an der Reling.
«Suchen Sie etwas?», fragte Sinclair Bess.
Carolin setzte sich auf. «Meine Kamera.»
«Haben Sie nicht vorhin fotografiert?»
«Doch, habe ich! Die Sicherheitsmänner haben sie mir abgenommen, als sie mich auf die Trage gelegt haben.» Sie setzte sich aufrecht hin. Als sie sich auf die Füße stellte, musste sie sich einen Moment am Bettrand festhalten.
«Hallo?», rief sie, doch niemand schien in der Nähe des Krankenzimmers zu sein. Hinter der Tür lag ein schmaler Flur, in dem es nach Desinfektionsmitteln roch. Ein Medikamentenschrank war geöffnet. Carolin konnte durchsichtige Schubladen erkennen, in denen Spritzen und ähnliche medizinische Werkzeuge auf ihren Einsatz warteten. Sie fingerte einige
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