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Halbmast

Halbmast

Titel: Halbmast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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befand sie sich im Lüftungssystem. Acht breite Röhren liefen von hier aus nach oben und unten, nach links und rechts. Die Schächte waren eng, nur eine Person konnte sich zwischen silbernem Metallgewirr und rauer Wand hindurchzwängen. Das Licht des schmalen Türspaltes war hier schon nicht mehr auszumachen, Carolin musste sich ihren Weg ertasten. Schmale Sprossen ermöglichten den Aufstieg nach oben. Zwischen Deck 5 und 6 konnte man sich recht bequem bewegen, doch Deck 6 und 7, wo sie ja letztlich hin wollte, waren durch eine Sicherheitsluke, die als Brand- und Überflutungsschutz diente, getrennt. Pieter hatte ihr verraten, mit welchem Trick sich der schwere Deckel öffnen ließ, ohne dass man sich um gequetschte Gliedmaßen sorgen musste. Es erforderte Geschick, und vorhin hatten Carolin und Pieter den Weg gemeinsam bestritten. Sie hatten zusammen den Schraubgriff gelockert, die Luke aufgestoßen und einer hatte sich von unten dagegen gestemmt, um dem anderen das Durchkommen zu erleichtern. Nun kam es darauf an, dass sie es auch allein schaffte. Die Flügelschraube,die größer als Carolins Handflächen war, bewegte sich kein Stück. Sie schlug mit der Faust dagegen, in der Hoffnung, durch einen gezielten Ruck den Verschluss zu lösen, doch sie musste bald erkennen, dass es so nicht ging. Ihr fehlte die Kraft. Zwar hatten sich ihre Augen inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, doch in dem kleinen Umkreis, den sie überblicken konnte, war kein geeignetes Hilfsmittel zu sehen. Eine Eisenstange, ein Irgendetwas, mit dem sie erst als Hebel genug Kraft zum Schrauben und anschließend eine sichere Stütze zum Hindurchklettern hatte. Doch hier lag nichts.
    Sie versuchte es erneut, stemmte sich mit dem ganzen Körper gegen diese verdammte Schraube. Plötzlich rutschte sie ab. Ihr rechter Fuß schob sich von der Leiter, und sie verlor den Halt, rutschte nach unten, der linke Fuß knickte um, sie knallte mit der Schulter gegen die Wand, scheuerte sich das Hemd und die Haut darunter auf, bis es ihr endlich gelang, mit der linken Hand die Leiter zu fassen. Nun hing sie an einem Arm, ihre Beine schwebten in der Luft. Sie musste es schaffen, sie durfte nicht loslassen. Würde sie fallen, so würde sie mit voller Wucht gegen die Lüftungsrohre knallen. Das wäre zweifelsohne schmerzhaft, die Metallverbindungen hatten scharfe Kanten. Zudem wäre es auch laut, im näheren Umfeld könnte man den Sturz dröhnen hören. Und dann würde man sie finden. Das durfte auf keinen Fall passieren.
    Sie hatte aber noch etwas Kraft. Es war die Kraft, die man erst kennen lernte, wenn man wusste, dass es wirklich drauf ankam. Sie bekam die Leiter zu fassen, und als sie endlich wieder einen stabilen Stand hatte, gelang es ihr tatsächlich. Sie hielt die Luft an, presste sich gegen die Schraube und öffnete die Luke. Beim Durchsteigen riss ihr Hemd ein. Sie blickte in der Dämmerung an sich herunter. Überall warenFlecke und Risse. Wenn sie den Eindruck erwecken wollte, dass sie weiterhin blauäugig und passiv durch die Gänge der
Poseidonna
spazierte, musste sie sich dringend umziehen.
    Immerhin war sie nun auf dem Stockwerk, auf dem ihre Kabine lag. Hier kannte sie sich aus. Zumindest wusste sie, dass nach dem Orchestergraben und der Umkleide bald die Zwischentreppe kommen musste, und dass diese sich im mittleren Teil des Schiffes befand, und von dort aus konnte sie sich orientieren. Zum Glück waren die Flure, durch die sie schlich, menschenleer.
    Sie hetzte lautlos, links, Glastür, links, acht Türen, Lösungsmittelgeruch, rechts. Sie konnte es kaum erwarten, Pieter zu wecken. Sie musste ihm von dem toten Wolfgang Grees erzählen und von der falschen Leiche, die hoffentlich nicht Leif war. Vielleicht würde er eine beruhigende Lösung finden, die plausibel erklärte, was hier vor sich ging. Sie erwartete nicht, dass er sie beruhigte. Dazu war einfach zu viel geschehen, was ihr Angst machte. Obwohl sie Pieter erst so kurz gesprochen hatte und er ein blinder Passagier, ja, sogar ein Saboteur war, wusste sie, dass er der Einzige hier war, dem sie im Moment Vertrauen schenken wollte. Zudem hatte sie auch gar keine andere Wahl.
    Carolin blieb stehen. Die Kabinentür stand sperrangelweit offen. Als sie gegangen war, hatte sie Sinclair Bess im Schlepptau gehabt, und sie hätte schwören können, dass sie die Kabinentür abgeschlossen hatte. Um Pieter zu schützen, aber auch, um ihn einzusperren, um ihn in gewisser Weise unter Kontrolle zu haben. Gab

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