Halbmondnacht
bestand keinerlei Zweifel mehr: Wir hatten das Portal gefunden. Selenes Energiesignatur hing hier überall in der Luft.
Noch einmal atmete ich tief durch Mund und Nase ein. Ich wollte versuchen, die Witterung der einzelnen Bergziege aufzunehmen, die sich nicht vom Fleck gerührt hatte. Es war gar nicht so leicht. Gerüche überforderten mich in der Regel. Sie waren mir zu komplex: zu vielschichtig, zu viele Unternoten. Die Informationen überfluteten mich, und ich fand gar keine Gelegenheit, sie ordentlich zu sortieren. »Hast du mehr Glück als ich?«, fragte ich meinen Bruder. »Alles schmeckt und riecht grässlich und zugleich nach jeder Menge magischer Macht.«
»Mehr Glück? Mehr Können, Schwesterlein!«, antwortete Tyler. »Anders als du kann ich das magische Potenzial nicht herausfiltern. Dafür kann ich ein paar andere Gerüche identifizieren. Die Ziegen haben eine widerliche … irgendwie ranzige Unternote, kaum wahrnehmbar. Die, die sich nicht rührt, riecht dagegen sauber, fast schon künstlich.«
»Das Ranzige ist mir auch aufgefallen. Es schwängert die Luft geradezu, seit die Ziegen hin und her laufen. Aber ist das Teil ihrer eigentlichen Witterung oder Verwesungsgeruch von einer Beute?« Ich zog die Nase kraus.
»Ziegen sind doch keine fleischfressenden Raubtiere!«, rief Danny, der auch auf diese Entfernung keine Schwierigkeiten hatte, dem Gespräch unter uns Geschwistern zu folgen. »Sie ernähren sich rein vegetarisch, jedenfalls soweit ich weiß. Sie grasen die Umgebung ab und stopfen sich mit Grünzeugs voll, mit Wurzeln und so Sachen.«
Klar, normale Ziegen waren reine Pflanzenfresser. Aber was ich vor Augen hatte, waren tollwütige, von Dämonen besessene Ziegen mit glühend roten Augen, die Fleisch fraßen, bevorzugt solches, das noch lebte und sich noch wehrte. Wahrscheinlich benötigten sie stündlich Frischblut. »Sie sind keine Vegetarier, wenn es sich um Werziegen handelt, richtig? Und das da sind sicher keine normalen Ziegen. Das sind …«
»Tote Ziegen«, beendete Tyler meinen Satz. »Hörst du, Danny, du Schwarzseher? Zombie-Ziegen! Wiederbelebt. Selene muss irgendeine Art von Nekromantenmagie beherrschen. Die Ziegen erwachen, wenn sie eine Bedrohung spüren. Die übrige Zeit bleiben sie sozusagen im Stand-by-Modus.«
»Tja, da Rot die Farbe von Selenes bösen Zaubern ist, erklärt sich wohl auch die Augenfarbe der Ziegen«, meinte ich. »Aber sie können ja nicht ewig als Zombies herumlaufen. Es ist der natürliche Kreislauf der Dinge, dass alles, was mal lebendig war, vergeht. Kein Zauber ist mächtig genug, um Verwesung dauerhaft aufzuhalten.«
Tyler flehmte noch einmal. »Das muss ein ziemlich neuer Schwung Ziegen sein. Der Verwesungsgeruch ist minimal. Aber mit der Zeit werden sie wohl grässlich stinken.«
»Wir haben es also mit Zombie-Ziegen zu tun. Na, fantastisch!« Ich kletterte ein Stück höher, etwa bis auf Tylers Höhe. »Das einzig Gute daran ist, dass Zombies nicht gerade sonderlich clever sind. Die künstliche Ziege ist sicherlich der Torwächter. Ich schlage vor, einer von uns macht am anderen Ende des Felsvorsprungs Randale und lenkt die Ziegen so ab. Die beiden anderen nehmen sich den Torwächter vor. Ich melde mich freiwillig für Letzteres.«
»In Ordnung«, antwortete Danny. »Mein Job wird sein, mit der Zombie-Herde fertigzuwerden. War mir klar, und zwar von dem Augenblick an, wo uns die Viecher unter die Augen gekommen sind. Ich klettere dann mal ganz rechts rüber.« Er kletterte los.»Ihr werdet schnell merken, wenn ich mit dem Ablenkungsmanöver beginne.« Die Augen aller Ziegen richteten sich auf ihn, kaum dass er die erste Bewegung machte. Jede weitere Bewegung begleitete ein schauriges, schrilles Meckern, das klang, als würde eine alte Dame abgemurkst. Und eine nach der anderen setzten sich die Ziegen Schritt um Schritt in Bewegung, um Danny geschlossen als Herde nach rechts zu folgen.
»Wir müssen noch ein Stück näher ran an den Vorsprung. Sonst sind wir nicht schnell genug, wenn Danny loslegt«, meinte Tyler und kletterte ebenfalls los.
»Geh ja nicht zu nah ran!«, warnte ich. »Ist ja nicht nötig, dass wir bei denen auch noch Interesse an uns wecken.«
»Dafür ist es schon zu spät, Schwesterlein«, grunzte Tyler und zog sich ein ganzes Stück höher hinauf. »Selene ist ja nicht blöd. Wenn es etwas Bedrohliches so nah an ihre Zuflucht schafft, rechnet sie sicher damit, von mehr als nur einer Seite angegriffen zu werden.
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