Halbmondnacht
Instinkten in der ganzen Truppe war. Aber wie dir nicht entgangen sein dürfte, wenn du Augen und Ohren aufgesperrt hast, ist das nicht so, weil ich Crack oder einen anderen Mist einwerfe.« Ich breitete die Arme aus, teils als Drohgebärde, teils weil ich es konnte, Ray hingegen nicht. »Die Wahrheit ist, dass ich in eine Familie von Wölfen hineingeboren wurde. Ja, richtig, echte Werwölfe. Kürzlich habe auch ich mich in eine Wölfin gewandelt. Aber ehrlich gesagt war das nichts, in das du deine Nase hättest stecken dürfen. Das ging dich absolut nichts an. Du hättest das Herumschnüffeln einfach lassen sollen. Hast du aber nicht. Und jetzt steckst du so tief in der Scheiße, dass dir nur noch eine einzige Möglichkeit bleibt. Wenn du nicht bereit bist, sie zu ergreifen, endet dein Leben hier in dieser Abstellkammer.« Bei jeder der letzten Silben deutete ich auf den Boden zu unseren Füßen. Verhöre erfordern ein enormes Gespür für Dramatik, doch was ich auch versuchte, Ray konnte ich damit nicht beeindrucken. Er kaufte mir kein Wort ab.
Er kniff die Augen zusammen, und sein Geruch veränderte sich sofort. Es dauerte keinen Herzschlag, und ich roch statt konstanter Angst etwas säuerlich Mineralisches – echte Wut.
Der Mann hatte wirklich fette Eier in der Hose.
Ray hatte dunkle Ringe unter den Augen. Seine raspelkurzen, stahlgrauen Haare, die normalerweise vom Kopf abstanden wie die Stacheln eines abwehrbereiten Igels, hingen platt herab. Wenn diese Zeichen nicht trogen, hatte er in der letzten Nacht kein Auge zugetan. Keine Überraschung. Man sollte annehmen, nach allem, was er in den letzten achtundvierzig Stunden erlebt und gesehen hatte, wäre er bereit, allem zuzustimmen. Einfach alles zu unternehmen, nur um sich selbst aus der Jauchegrube zu ziehen. Stattdessen rüstete er sich schon für den nächsten Kampf.
Und ich kam ihm als Gegnerin gerade recht.
Ich beugte mich weit vor, ganz nah an ihn heran, um noch einmal zu unterstreichen, wer von uns beiden hier die Oberhand hatte. Ich musste ihn unbedingt davon überzeugen, dass ihm nur eine Option blieb und er keine andere Wahl hatte, als darauf einzugehen oder zu sterben. »Nach allem, was du gesehen hast, ist deine einzige Überlebenschance, dich uns anzuschließen.« Ich ließ meine Stimme ganz ruhig klingen. »Hast du kapiert, was ich sage? In meiner Welt ist auch für Reinmenschen Platz. Aber du musst dich uns freiwillig anschließen. Es gibt nur das oder den Tod, nichts dazwischen.«
Unter seinem Knebel spie Ray mir einen Fluch entgegen. Es klang halb erstickt, aber ich verstand ihn dennoch.
»Es spielt keine Rolle, ob du mich für ein Miststück hältst. Das ist eine Ebene der Auseinandersetzung, die wir längst hinter uns gelassen haben. Jetzt geht es nur noch darum, ob du am Leben bleibst oder nicht. Meine spitzenmäßigen Charaktereigenschaften sind momentan nicht das Thema, kapiert?«
Danny zog seinen Stuhl näher ans Geschehen heran. Die Stuhlbeine kratzten über den abgenutzten Linoleumboden. Das Grinsen, das Danny dabei aufsetzte, ging von einem Ohr zum anderen. Hätte er gerade ein Karte für eine der großen Wrestling-Shows gleich in der ersten Reihe ergattert, wäre es auch nicht breiter gewesen. Breitbeinig hockte er sich auf die Stuhlkante, die Ellenbogen entspannt auf den Knien. Nach einem Moment erwartungsvollen Schweigens meinte er: »Da bekommt das Ganze ja noch mal eine Wendung zum Guten, nicht wahr? Bisher, Mr. Hart, habe ich Ihre Chancen, den nächsten Sonnenaufgang zu erleben, für schwindend gering gehalten. Also sperren Sie die Lauscher auf und hören Sie der netten Lady ganz genau zu. Sie übertreibt nämlich kein bisschen. Auch wenn ich unsere kleine Plauderei letzte Nacht als sehr anregend empfunden habe, würde ich doch keine Sekunde zögern, Sie gleich heute und hierumzubringen. So ist das halt. Es ist nichts Persönliches, verstehen Sie? Es geht nur ums Geschäft.«
Kurz rutschte Ray auf seinem Stuhl hin und her, zerrte an seinen Fesseln und kämpfte gegen den Knebel.
Mein Interesse daran, ihn zappeln zu sehen, tendierte gegen null. Daher beugte ich mich vor und riss das Handtuch herunter, das ihn daran hinderte, verbal so richtig die Sau rauszulassen.
»Hannon«, röchelte er sofort, holte dann aber erst einmal tief Luft. »Damit kommst du nicht davon!« Er kannte mich nur unter dem Namen Molly Hannon, dem Pseudonym, unter dem ich die letzten sieben Jahre gelebt hatte. »Du kannst mich nicht einfach
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