Halbmondnacht
in den Wäldern des Nordens wirst du wieder zu Kräften gekommen und so gut wie neu sein. Niemand wird etwas mitbekommen.«
Rays Zorn schlug mir in aggressiven Wellen entgegen. »Mich interessiert dein Geschwafel nicht, Hannon! Ich schwöre nichts und niemandem irgendwelche obskuren rituellen Eide. Du und dein dämlicher Kult von ausgeflippten Freaks kann mich …«
Blitzschnell schoss meine Hand vor und zog Ray wieder den Knebel vor den Mund. Er war so schockiert über meine Schnelligkeit, dass es ihm die Sprache verschlug.
Wirklich und wahrhaftig: Er war ein Stachel in meinem Fleisch, kaum auszuhalten.
»Na, sieht ganz so aus, als sei Einsicht nicht sein Ding«, meinte Danny. »Falls es dich interessiert: Das Angebot, das du ihm gemacht hast, war meiner Meinung nach echt passabel. Ich jedenfalls hätte keinen Augenblick gezögert, es anzunehmen.«
Ray begann wieder, gegen seine Fesseln anzukämpfen, und in einem Moment der Schwäche dachte ich allen Ernstes darüber nach, ihm den Hals zu brechen. Das würde alles viel einfacher machen. Leider war es noch nie mein Stil gewesen, den leichten Weg zu gehen, wenn es auch noch andere gab. »Verflucht, Ray, warum musst du so ein störrischer Idiot sein!« Mit diesem wütenden Satz sprang ich auf und versetzte meinem Klappstuhl einen Tritt. Der Knall, mit dem er gegen die Wand flog, um dort förmlich zu explodieren, war verdammt laut. In seine Einzelteile zerlegt, fiel der Stuhl scheppernd zu Boden. Die Wand hatte auch einiges abgekommen und schickte eine Wolke aus weißem Staub hinterher.
»Hör zu, Jess.« Danny baute sich vor mir auf. »Du darfst dir nicht die Schuld daran geben.« Behutsam legte er mir die Hände auf die Schultern und sah mich kurz an, ehe er den Blick wieder senkte. Ich stand in der Rangordnung des Rudels über ihm. Ein langer Blickkontakt in einer Stresssituation war daher schwer aufrechtzuerhalten. »Ich kann sehen, wie es dich innerlich zerreißt, mit Tod und Sterblichkeit umzugehen. Das ist so, weil du die Welt immer noch mit den Augen eines Menschen siehst. Aber lass dir von mir sagen, dass dieser Typ den ganzen Frust und Ärger nicht wert ist.« Mit einer beiläufigen Handbewegung deutete Danny auf Ray, der seit meinem Ausbruch merkwürdig still geworden war. »Wir haben heute Abend noch weitaus Wichtigeres zu tun.Beispielsweise sollten wir uns endlich auf den Weg machen, um deine Katze zu suchen.« Als mein Selektivhelfer, ebenso wie mein Zwillingsbruder Tyler, quasi ein zu meinem Schutz angeheuertes Muskelpaket, würde Danny mich auf meiner Suche begleiten. »Bis zum Einbruch der Nacht ist nicht mehr viel Zeit. Ich weiß, dass du bisher noch kaum Erfahrung beim Töten gesammelt hast. Ich nehme es dir daher gern ab. Dann hätten wir das im Handumdrehen hinter uns.«
‹Noch‹ war das entscheidende Wort. Unschuldige umzubringen sollte kein Klacks sein, nichts, was sich im Handumdrehen erledigen ließe. Dass ich jetzt eine Wölfin war, taugte nicht als alleinige Entschuldigung dafür, jemandem das Leben zu nehmen. Sechsundzwanzig Jahre lang war ich ein Mensch unter Menschen gewesen. So mir nichts, dir nichts konnte ich nicht töten – nicht einmal diesen Mistkerl.
Ganz klar, dafür müsste er sich doppelt so heftig ins Zeug legen.
»Wir töten ihn nicht, Danny.«
»Wie bitte?« Danny neigte fragend den Kopf.
»Er bleibt am Leben. Fürs Erste jedenfalls.«
Ich blickte auf Ray hinab. Er kniff die Augen zusammen, schien irgendeinen miesen Trick zu argwöhnen.
Natürlich bekam er gerade Oberwasser. Er hoffte sicher, gleich schadenfroh seinen Triumph auskosten zu können. Denn nun würde ich wohl zugeben müssen, dass er recht gehabt hatte und wir nur Anhänger einer obskuren Sekte waren. Bedauerlicherweise würde er bald erkennen, dass er es nicht mit irgendwelchen Hirngespinsten zu tun hatte. Nein, das hier war das wahre Leben. »Es stimmt, Ray.« Müde seufzte ich. Es war ein langer, schwerer Seufzer. »Du bleibst am Leben und darfst dich auf den nächsten Tag freuen, du völlig beknackter Esel! Von heute an gehört dein störrischer Arsch dann wohl mir.«
»Ähm, Jessica?«, meldete Danny sich zu Wort. »Ich hege dieBefürchtung, dass dein Vater nicht sonderlich enthusiastisch darauf reagieren wird, dass du den Typen am Leben …«
»Das ist bereits geklärt. Sollte ich Ray nicht davon überzeugen können, Stillschweigen zu bewahren und den Blutschwur zu leisten, wird er mein Eigentum. Wenn er ohne mich hier bleibt,
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