Halbmondnacht
Hank war immer schon ein großmäuliger, störrischer Zeitgenosse. Aber er stand loyal zu seinem Rudel. Sein größter Fehler ist zu große Nachgiebigkeit. Er hat seinem Jungen alles gegeben, was sich der Kerl nur gewünscht hat.« Was nicht gerade zu Stuarts Charakterbildung beigetragen hatte, im Gegenteil: Er war ein mieser Drecksack gewesen, sonst nichts. »Wölfe können unruhig und unstet werden«, fuhr mein Vater fort und schüttelte den Kopf, »alles richtig, und ich verstehe das. Aber die Splittergruppe ist für meinen Geschmack viel zu gut organisiert. Meines Erachtens wird das Ganze von außen gesteuert.«
»Eine andere Gemeinde?«
»Ja, genau.«
Ich biss mir auf die Lippe. Dass sich eine übernatürliche Gemeinde mit einer anderen verbündete, war sehr ungewöhnlich, was dieser Möglichkeit umso mehr Bedeutung verlieh. Jede Gemeinschaft beäugte die andere argwöhnisch. Das gegenseitige Misstrauen war geradezu krankhaft. »Glaubt man den Andeutungen der Vampirkönigin, gibt es zwischen ihr und der Splittergruppe Vereinbarungen, die die Wölfe den Vampiren verpflichten.« Wie bindend diese Vereinbarungen waren, hatte sich jedoch nicht herausfinden lassen. Eudoxia, die mächtige Vampirkönigin, die gegenwärtig wie ein Fluch auf meinem Leben lastete, verbargsicher noch ein Ass im Ärmel. Hatte sie seit meiner Geburt ein Netz aus Intrigen gesponnen, in dem ich mich verfangen sollte? Das wäre zumindest eine bedenkenswerte Möglichkeit. »Sollte Eudoxia schon länger Kenntnis von der Prophezeiung gehabt haben, könnte sie es gewesen sein, die über all die Jahre Zweifel gesät hat. Den Argwohn der jüngeren Wölfe könnte sie gezielt geschürt haben, indem sie einige wenige Maulwürfe an den richtigen Stellen eingeschleust hat. Sie hat behauptet, die Wölfe wären ganz begierig gewesen, vor ihr den Gefolgschaftseid abzulegen.«
»Wölfe legen vor Vampiren überhaupt keine Eide ab!«, knurrte mein Vater. Mit hochgezogener Augenbraue fixierte er mich, und die Härte und Entschiedenheit in seinem Blick unterstrich seine Worte. »Zumindest hat das außer dir noch kein Wolf getan.«
Es stimmte. Ich hatte die goldene Regel gebrochen, was Eide von Wölfen gegenüber Vampiren anging. Aber ich hatte es getan, um meinen Gefährten zu retten. Und ich würde mich jederzeit wieder so entscheiden. Aber diese nicht unwesentliche Kleinigkeit musste ich ja nicht ausgerechnet hier und jetzt hinausposaunen. »Wohin also führt uns das Ganze?«
Mein Vater beugte sich vor. »Ich habe keine Ahnung, Jessica. Ich werde nicht so tun, als wüsste ich, worum es bei dieser Geschichte tatsächlich geht.«
Darüber nachzudenken, welche Folgen die Prophezeiung wohl sonst noch haben könnte, war offenkundig zu viel für mein armes Hirn: Mir wurde langsam schwindelig. »Ich fühle mich nicht zum Alpha berufen«, bekräftigte ich und meinte es auch so. »Gut, ich habe kapiert, dass ich stark bin. Aber meine Wölfin hat mir unmissverständlich klar gemacht, dass es nicht unser Job ist, das Rudel zu führen. Und ich bin fest überzeugt davon, dass sich das auch nicht ändern wird.«
»Ich spüre auch nicht, dass von dir eine Bedrohung für mich ausgeht. Das Gegenteil ist wohl eher der Fall, und das erleichtert mich sehr.«
Meine Wölfin kläffte mir zu. Wir mussten langsam wirklich los. Ich schob meinen Sessel zurück und stand auf. »Wirst du dich jetzt in Richtung Süden aufmachen?«
»Ja, ich breche in Kürze auf. Ein Dutzend Wölfe wird mich begleiten. Wir werden so lange fort sein, wie es nötig ist.« Dad legte beide Hände vor sich auf den Tisch. »Jessica, bitte vergiss nie: Wenn du unterwegs in große Not gerätst, finde ich dich und stehe dir bei!« Daran hatte ich nicht den geringsten Zweifel. »Ich werde mich so oft wie möglich mit dir in Verbindung setzen.«
Nun gab es nur noch eine Sache, die ich zu regeln hatte, ehe ich die Stadt verließ.
Diese ›Sache‹ hatte zwei Beine, eine Polizeimarke und jede Menge Wut im Bauch.
»Was machen wir mit Ray?«, wollte ich von meinem Vater wissen. Detective Raymond Hart hatte unbeabsichtigt unser Geheimnis entdeckt. Damit wurde er zu einer echten Bedrohung für unsere Art. Heute früh war er aus einem sicheren Versteck hierhergebracht worden, damit ich ein bisschen mit ihm plaudern konnte, was bedeutete, dass ich ihn würde töten müssen, sollte er mir keine andere Wahl lassen. Derzeit befand er sich unter strenger Bewachung ein paar Zimmer weiter.
Der Blick, mit dem mich mein
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