Halbmondnacht
Haaren, und das Unverdauliche spuckt sie aus. Bist du wirklich derart dumm?« Er hatte nicht einmal einen Blick für mich. Ich setzte noch mehr von meiner magischen Energie in den Ketten frei. Meine Wölfin knurrte und schnappte nach ihnen und versorgte uns beide mit noch mehr Adrenalin. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt einzig und allein der Aufgabe, unseren Gefährten zu befreien.
Eamon traf seine Entscheidung. Vom Alkoven herüber blickte er zu mir. Das Kerzenlicht sorgte dafür, dass über sein totenbleiches Gesicht unheilvolle Schatten huschten. Naomi hatte sich kein Stück gerührt, nicht einmal mit dem kleinen Finger gezuckt. Ich betete darum, dass sie bald erwachte. Ich war ganz sicher, dass sie noch am Leben war. Selene würde noch ein bisschen mit ihr spielen und sie auf viele verschiedene Arten bestialisch foltern wollen, ehe sie ihr schließlich den wahren Tod geben würde. Eamon drehte sich um und legte Naomi hinter sich in die Nische. Sehr achtsam, fast schon zärtlich suchte er eine geschützte Ecke für sie.
Als er sich wieder zur Höhle umdrehte, galt sein Blick allein Selene. Er hatte sich also entschieden und wartete auf seine Befehle. Selene begriff es sofort. Er gehörte ihr. Er hatte immer ihr gehört auf eine sehr verdrehte, für ihn peinigende Art. »So ist’s recht, mon chéri «, gurrte sie. »Kämpf an meiner Seite, und ich werde dich belohnen. Wir kehren an den wunderschönen Ort zurück, den wir miteinander teilten, nur du und ich.«
Sie war gut.
Und das widerte mich an.
Die Ketten erbebten und klirrten. Meine Magie hatte sich um Selenes Zauber gelegt, erstickte ihn. Gleich haben wir es geschafft. Meine Wölfin bellte. »Eamon!«, rief ich und hoffte, ich könnte erneut seine Aufmerksamkeit gewinnen. »Du bist ein Narr, und ich werde dich deine Entscheidungen bereuen lassen, jede einzelne, das verspreche ich dir!«
Selene stolzierte durch den Saal, und an ihren Fingerspitzen tanzten rote Funken.
»Beiß den bösen Wolf, Eamon!«, rief sie. »Tu es für mich, und wir werden wieder zusammen sein und uns lieben!«
Eamon warf sich von der Alkovenkante aus hoch in die Luft; zeitgleich brach der Zauberbann, mit dem Selene die Ketten belegt hatte.
Rourke stürzte, aber ich war schon unterwegs, den Ereignissen einen Schritt voraus.
Einen Sekundenbruchteil, ehe mein Gefährte in meinen Armen landete, hörte ich eine Stimme in meinem Kopf.
Jess, wir sind hier. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Die Stimme meines Bruders; ich fühlte mich wie der Ehrengast einer Überraschungsparty. Wir hatten ein paar Schwierigkeiten, uns in diesem Irrgarten zurechtzufinden. Und ich musste mich in einen M enschen zurückverwandeln. Ein Felsbrocken auf der gegenüberliegenden Seite der Kuppel bewegte sich. Ich sah es, als ich Rourke gerade auffing. Der Schwung, den sein tiefer Sturz mit sich brachte, riss mich um, und wir landeten beide auf dem Boden.
Und genau da gellte laut und wütend eine weitere Stimme durch die Höhle.
»Was zum Teufel geht hier vor, Hannon? Sieht aus, als könntest du ein bisschen Hilfe gebrauchen!«
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
W as zum Henker tut Ray hier? Auch wenn ich innerlich zusammenschrak, bettete ich Rourke ganz sanft auf den harten Felsboden. Zu mehr allerdings kam ich nicht. Eamon rannte mit übernatürlicher Geschwindigkeit in mich hinein und klatschte mich gegen die Wand drei Meter hinter mir. Es krachte ganz schön, als der Fels und ich Bekanntschaft miteinander machten.
Selene wirbelte zu dem neuen Eindringling herum. »Ein Mensch, welch Frevel! Wie kannst du es wagen, meine Zuflucht zu betreten, Sterblicher?«
Jeder bewusste Gedanke war wie weggeblasen, als ich meiner Wölfin die Kontrolle überließ. Ich hatte meinen Teil getan. Sie verlor keine Zeit, und wir stürzten uns auf Eamon, der sich von der Stelle weggerollt hatte, wo er mit mir in die Felswand gedonnert war. Rourke war schwer verletzt, und wir mussten das Ganze möglichst rasch beenden. Alles andere zählte nicht mehr. Zorn kochte in mir hoch, als wir durch die Luft auf Eamon zuflogen.
Plötzlich war es, als spiele sich alles um mich herum in Zeitlupe ab, so sehr, dass es schien, als würde Eamon sich gar nicht mehr bewegen.
Immer noch unendlich langsam, blickte er auf. Sein schaurig verzerrtes Vampirgesicht sah unbarmherzig und unmenschlich aus, und der Hass, der in seinen Augen glühte, war mit Befriedigung gepaart; ein höhnisches Grinsen umspielte seine Lippen. Ich korrigierte meine
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