Halbmondnacht
gereicht, um beim Klang meiner Stimme noch einen von Selenes Bannsprüchen zu brechen. »Ich möchte … dass du am Leben bleibst. Bitte … Jess …«
»Rourke, hör mir zu.« Ich legte so viel Macht in meine Stimme, wie ich nur konnte. »Ich bleibe hier, und wir beide stehen das gemeinsam durch. Ich bin dabei, die Ketten aufzubrechen. Wenn es so weit ist, fange ich dich unten auf.« Wieder bewegte sich etwas am Rand meines Blickfelds. Wieder Eamon. Wir können uns Eamon zunutze machen. Er stand am Rand des Alkovens, den leblosen Körper seiner Schwester auf den Armen. Sie war nicht mehr in das schreckliche Netz gewickelt, aber über und über mit getrocknetem Blut bedeckt. »Eamon«, rief ich verzweifelt, »du musst uns helfen! Hilf uns, und du stehst nicht mehr in meiner oder deiner Schwester Schuld und bist frei, obwohl du für deinen Verrat den Tod verdient hättest.« Als Naomis Hüterin hatte ich das Recht, auf diese Schuldforderung zu verzichten. Wenn er auf meinen Vorschlag einging, konnte ich mich später immer noch um eine angemessene Bestrafung kümmern. Ich schlug einen anderen Tonfall an, um ihn doch noch zum Umdenken zu bewegen. »Bitte hilf uns! Uns läuft die Zeit davon.«
Wütend wie immer spie Eamon mir entgegen: »Dir würde ich nie helfen. Ich bin dankbar dafür, dass du hier dein Ende findenwirst.« Sein Blick ging hinunter zu Selene, die jetzt hustete und ihre Beine bewegte. Zum Henker damit. »Ich hätte nicht hierher zurückkehren sollen.«
»Eamon.« Endlich fand ich heraus, um was für einen Zauber es sich handelte, mit dem Selene die Ketten belegt hatte, und meine Wölfin arbeitete mit der ganzen Macht unserer Magie dagegen an. »Sobald deine Königin herausfindet, dass du ein Verräter bist, dass du die letzten Jahrhunderte deines Lebens damit verbracht hast, Selene zu helfen, hast du dein Leben verwirkt. Hilf mir jetzt, und ich verspreche dir, dass du am Leben bleiben wirst! Ich schwöre es sogar bei meinem eigenen Leben.«
»Von dir will ich nichts und nehme ich nichts«, giftete der Vampir. »Ich gehe weit weg, und meine Schwester wird sich erholen, fern von dir und deinen schmutzigen Tricks, mit denen du andere manipulierst. Wir kommen schon ohne dich zurecht, genau, wie wir das vorher auch schon getan haben.«
»Das bezweifle ich sehr.« Erste Goldfäden meiner Magie fanden ihren Weg hinein in die Ketten. Mit jedem Augenblick, der verstrich, wurde Selenes Zauber schwächer. Ich würde schon bald springen müssen. Halt durch, Schatz. »Eamon«, rief ich zu ihm hinüber, »du hast vergessen, dass deine Schwester mir Treue geschworen hat. Anders als du ist sie jemand, der um der Ehre willen einen Schwur bis zum letzten Atemzug halten wird. Wie lange wird es wohl dauern, bis sie dich verlässt und zurückkehrt, um meinen Tod zu rächen? Außerdem wird sie sehr böse auf dich sein. Aber hier und jetzt kannst du deine Ehre wiederherstellen.«
»Mit dir rede ich nicht mehr!«, blaffte Eamon. Seine Stimme war heiser vor Wut. Er trat einen Schritt näher an die Felskante heran; dabei trug er immer noch seine Schwester auf den Armen. Gefühle waren offenkundig etwas, womit er nicht gut umgehen konnte. »Dir jedenfalls helfe ich nie und nimmer!«
Selene setzte sich auf; ihr Gesicht war fast vollständig verheilt. »So ist’s recht, Liebling«, gurrte sie und blickte hinauf zu Eamon.»Du sollst ihr auch gar nicht helfen, sondern mir. Vorhin, das war dumm von mir. Ich habe verabsäumt, dich dafür zu belohnen, dass du deine Schwester zu mir zurückgebracht hast, mon chérie . Bitte vergib mir.« Sie stand auf, was ihr offenkundig keinerlei Schwierigkeiten bereitete. Das schwarze Leder ihrer Korsage klappte auf der Vorderseite, wo ich es mit meinen Krallen zerfetzt hatte, auf. »Komm her und zeig mir, wie sehr du mich liebst. Es ist schon so lange her, ich weiß gar nicht mehr, wie das war. Komm, Eamon, erinnere mich an unser gemeinsames Eheglück, an die Liebe, die wir einst füreinander empfanden.«
Eheglück?
In Gedanken versunken zögerte Eamon. Wieder war er verwirrt. Seine Miene verriet, wie sehr er sich wünschte, er könnte Selenes Worten vertrauen. Das stand ihm ebenso ins Gesicht geschrieben wie Schmerz und echte Not, die bald tiefer Sehnsucht wich. Dennoch hatte er mein Mitleid nicht verdient. Mist. Er hatte nie auch nur den Hauch einer Chance gehabt. »Eamon, das kann doch jetzt echt nicht wahr sein! Wach auf!«, fauchte ich. »Sie frisst dich doch mit Haut und
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