Halbmondnacht
als bewege man sich in einem Labyrinth aus Gängen und nicht in einem einzelnen Gang. Ich drang noch tiefer vor und da, ganz plötzlich, roch ich Blut. Hier drin war die Luft nicht im selben Maße von Schwefelgeruch geschwängert wie draußen in der Felskuppel. Daher hatte meine Nase eine Chance, etwas zu entdecken.
Ich roch Rays Blut.
Daran bestand kein Zweifel. Ich würde gleich um eine Ecke biegen. Hier war die Tunneldecke niedriger als zuvor. Rays Geruch fing sich dort. Ich schloss die Augen. Ray lag sicher gleich hinter der Ecke im Gang. Wirklich hinsehen mochte ich nicht. Er war ein Mensch, schwächer als wir, gefährdeter als wir. Das war von Anfang an ein Nachteil gewesen. Er war von Anfang an im Nachteil gewesen. Schon als wir losgefahren waren, hatte ich das gewusst. Natürlich hatte ich nicht geahnt, dass ihn ein Vampir als Nahrungsquelle missbrauchen würde, aber dass Rays Überlebenschancen gegen null tendierten, war mir klar gewesen. Mir war völlig schleierhaft, wie er zusammen mit Tyler und Danny in die Höhle gefunden hatte. Am wahrscheinlichsten war noch, dass Naomi ihn unbeabsichtigt in der Nähe eines Eingangs abgesetzt hatte und die drei sich dann im Tunnelsystem zufällig begegnet waren. Tunnel gab es in diesem Berg ja schließlich reichlich.
Wenn er oben auf dem Gipfel geblieben wäre, so wie wir es ihm gesagt hatten, wäre er jetzt noch am Leben. Er würde sich schierendlos darüber beschweren, wie lange wir gebraucht hätten, um ihn holen zu kommen. Aber stattdessen hatte er sein Bestes gegeben, um mir zu helfen. »Ray, kannst du mich hören?«, rief ich. Ich bekam keine Antwort. Natürlich nicht.
Zögernd umrundete ich die Ecke.
Ray, der Körper übersät mit Wunden, lag tatsächlich gleich dahinter. Vor allem sein Hals wies an verschiedenen Stellen tiefe Bisswunden auf, eine Kraterlandschaft aus Fleisch und Blut. Selbst seine Hände waren blutig, die Haut zerfetzt. Abwehrverletzungen. Er hatte gekämpft. Eamons Verführungskünste, die hypnotische Gabe der Vampire, mit der sie sich instinktiv schützten, hatten offenkundig versagt. Kein Wunder, Eamon war am Schluss in hohem Maße verstört gewesen. Die Liebe zu einer Göttin, die ihn gequält und gefoltert hatte, war sein Verderben gewesen.
Aber Ray zu etwas überreden oder verführen zu wollen, hatte noch nie funktioniert. Sollte Eamon es versucht haben, hätte Ray es vom ersten bis zum letzten Augenblick verabscheut. Der Gedanke brachte mich dazu zu grinsen: Eamon war sicher auf hundertachtzig gewesen, weil ein Mensch, nichts als ein Mensch, sich ihm widersetzte und um sein Leben kämpfte.
Ich brachte die letzten Schritte hinter mich und kniete mich neben Ray. »Es tut mir so leid, dass es für dich so hat enden müssen. Auch wenn du es vielleicht nicht glauben magst, aber ich habe gerade angefangen, dich zu mögen.« In einer fast schon zärtlichen Geste legte ich ihm die Hand auf die von Bissen zerfetzte Brust und hob keine Sekunde später überrascht den Kopf. Sein Herz tat einen einzelnen, mühsamen Schlag. »Was machst du denn? Versuchen zu überleben gegen jede Wahrscheinlichkeit?« Ich lächelte. »Du bist ein echter Dickschädel. Respekt.« Ich brachte das Ohr näher an seinen Brustkorb. Kein weiterer Herzschlag, dabei wartete ich mehrere Sekunden lang ab und lauschte angestrengt. Ich richtete mich wieder auf. »Ray, ich kann dir nichthelfen. Tut mir leid.« Ich musste schlucken und legte frustriert den Kopf in den Nacken. Den Blick auf die Tunneldecke gerichtet, versuchte ich, den Kloß in meinem Hals loszuwerden. »Selbst wenn du noch so sehr am Leben festhältst, ich kann nichts tun.« Ich zwang mich, ihn wieder anzusehen. Er war so schlimm verstümmelt worden; das ließ sich nicht mehr flicken. Die Wunden waren alle tief, zusammen gewiss tödlich. »Du bist ein Mensch, und deine Verletzungen könnte nicht einmal mehr der fähigste Arzt der Welt wieder hinkriegen. Auch keiner von uns kann es. Es gibt nichts, was ich noch für dich tun könnte. Es tut mir leid. Wirklich sehr leid.«
»Aber ich kann noch etwas für ihn tun«, sagte eine Stimme hinter mir. »Mit deinem Einverständnis, ma reine .«
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
W as zum Henker …« Tyler trat voll in die Eisen. Vor dem Gebäude, in dem mein Büro lag, kam der lächerlich kanariengelbe Hummer mit quietschenden Reifen zum Stehen – abrupt am Bordstein, was uns alle fast von den Sitzen riss.
Es war drei Uhr morgens.
Das ganze Gebäude war hell
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