Halbmondnacht
stirbt er. Niemand im Rudel ist bereit, den Babysitter für ihn zu spielen.« Ich hätte Marcy oder Nick darum bitten können, aber das war mir zu heikel. Sollte Ray ihnen irgendwie entkommen und unser Geheimnis öffentlich machen, würden die beiden dafür mit dem Leben bezahlen. »Ich habe mich entschlossen, über sein Schicksal zu bestimmen. Er gehört mir.«
Danny war die Verwirrung am Gesicht abzulesen. Er gab sich ebenso redlich wie vergeblich Mühe, meinen höchst irrationalen Gedankengängen zu folgen. »Dir?«
»Er kommt mit uns«, erklärte ich.
»Du nimmst mich auf den Arm!« Danny lachte. Miene, Blick, alles verriet seinen Unglauben. »Hundert Pro gehen wir bei unserer Suche an Orte, an die kein Sterblicher uns folgen kann. Dort ginge er sowieso drauf, wird getötet oder Schlimmeres. Gut, viel schlimmer als tot geht nicht, aber wie weh es tut, ist schon von Bedeutung.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Dann geht er eben drauf. Aber ihn hier und jetzt kaltblütig umzubringen, kommt für mich nicht infrage.«
Ein sardonisches Grinsen veränderte Dannys Gesichtsausdruck schlagartig. »Was immer du willst, Jess. Schließlich bist du hier der Boss.«
Scharf sog ich die Luft ein. »Sei bloß vorsichtig, Danny«, warnte ich ihn gereizt. »Warum musst du den Bogen eigentlich immer überspannen? Eines Tages wird dein loses Mundwerk dich reinreiten, und zwar so richtig tief. Dann kannst du so viel Süßholz raspeln, wie du willst, das rettet dich dann auch nicht mehr!« Mich so zu betiteln, derart demonstrativ, konnte Wellen schlagen,wo ruhiges Wasser besser wäre. Besonders wenn der eigentliche Boss gleich nebenan war.
Danny tat nicht einmal so, als ginge es um ein Missverständnis. »Ich kann nicht anders, ich bin süchtig danach. Welchen Spaß macht denn das Leben noch, wenn überall Ruhe und Ordnung herrschen und alles sicher, sauber und aufgeräumt ist?«
Da war durchaus was Wahres dran.
Ich wandte mich um und ging in Richtung Tür. »Begleite Ray nach Hause und pack ihm eine Reisetasche. Falls sein Haus überwacht wird, melde dich, dann planen wir neu. Komm zu meinem Apartment, wenn du fertig bist. Bei Anbruch der Nacht verlassen wir das Haus. Die Vampire werden kurz danach aufschlagen. Halte dich bereit.«
Im Weggehen hörte ich, wie Danny zu Ray sagte: »Kein Grund, so niedergeschlagen dreinzublicken, Detective Hart. Die Vampire bringen dich schon nicht gleich um. Sie spielen gern erst mit ihrer Beute. Das bedeutet, du und ich, wir haben noch jede Menge Spaß miteinander. Ist das nicht der Hammer?«
Ich kehrte in die Büros von Hannon & Michaels zurück, der Detektei, die ich zusammen mit meinem Partner Nick Michaels führte. Nick war ein Werfuchs, der in unserem Rudel-Habitat aufgewachsen war, weil mein Vater ihn an Kindes statt angenommen hatte. Weil Werwölfe ungern mit Artfremden spielen, waren wir beide von Anfang an beste Freunde gewesen.
Marcy, unsere furchtlose Sekretärin und Hexe vom Dienst, stand hinter ihrem Schreibtisch auf, als ich mit dem Empfangsraum auch das Sekretariat betrat. Sie wusste, was los war, kaum dass ich einen Fuß in unsere Räumlichkeiten gesetzt hatte. Marcy war ein ebenso kesser wie gescheiter Rotschopf mit höchst weiblichen Kurven und, wie gesagt, eine Hexe. Schon lange bewunderte ich sie insgeheim. Sie mochte nichts weniger als Gefühlsduseleien in der Öffentlichkeit. Also neigte ich dazu, mir das, wenn möglich, zu verkneifen.
»Was ist los?«, fragte sie. »Ist der Bullen-Plausch nicht gut gelaufen? Du siehst ein bisschen ausgelutscht aus.«
»Exakt so fühle ich mich auch: ausgelutscht. Haben wir noch irgendwas zu essen?«
»Nö, deine Compadres und du habt vor einer Stunde alles bis auf den letzten Rest vertilgt. Dabei waren in der Kaffeeküche mindestens zwanzig volle Fresstüten. Was ist nur los mit euch Typen? Wer soll denn bitte schön bei diesen ständigen Fressattacken noch hinterherkommen? Das ist ja schon nicht mehr normal!«
»Was soll ich sagen? Wölfe essen halt gern.« Ich grinste in mich hinein. Meinen jetzt sehr viel schnelleren Stoffwechsel mit enormen Mengen Nahrungsmitteln in Gang zu halten, war etwas, auf das ich mich erst einstellen musste.
Mein Magen knurrte, wie um meiner Aussage mehr Gewicht zu verleihen.
»Essen gerne? «, echote Marcy. »Dir fallen jedes Mal fast die Augen aus dem Kopf, wenn etwas zu essen durch diese Tür kommt. Du siehst aus wie ein Welpe, der seine Schnauze im vollen Fressnapf vergräbt und am liebsten
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