Halbmondnacht
und James haben eine spezielle Unternote in ihrem Geruch. Ich habe eine ganze Weile dafür gebraucht, deren Bedeutung zu begreifen. Mit Worten ist das schwer auszudrücken. Gerüche sind sehr vielschichtig und immer außergewöhnlich. Jeder Duft hat eine ganz eigene komplexe Struktur mit unzähligen feinen Schichten und Verästelungen. Aber ich habe die Bedeutung von Dads und James’ Geruch sofort verstanden, als ich …«
»Als du was?«, drängte ich ihn fortzufahren.
»Als ich diese Unternote in meinem eigenen Geruch wahrgenommen habe.«
»Wow, das ist ja abgefahren«, sagte ich. »Meinst du, die Aura eines anderen wahrnehmen zu können ist eine besondere Gabe?« Viele Übernatürliche besaßen solche zusätzlichen Gaben, also Kräfte, die über die hinausgingen, die in ihrer Art als normal galten. Dazu zählte beispielsweise auch die Fähigkeit meines Bruders, doppelt so schnell zu rennen wie jeder andere Wolf.
»Nein.« Er rieb sich den Nacken und ging einmal im Kreis herum, während er nachdachte und nach Worten suchte. Ganz wie unser Vater. »Ich glaube, ich habe mein ganzes Leben lang meine Nase besonders trainiert. Damit habe ich genutzt und weiterentwickelt, was an Anlagen bereits in jedem von uns steckt. Wir setzen unseren Geruchssinn viel zu wenig ein, weil wir alle viel zu sehr auf unsere Stärke vertrauen.«
Das stimmte allerdings. »Nur damit ich dich richtig verstehe: Du bist also der Meinung, ich rieche nicht wie ein Rudelanführer zu riechen hat? Nach was genau rieche ich denn eigentlich?«
»Langsam, langsam! Ich habe nicht gesagt, du würdest nicht nach Anführer riechen. Ich habe gesagt, dass du nicht wie ein Alpha riechst. Das ist ein Unterschied.«
»Es ist keine Woche her, da hast du behauptet, ich würde widerlich nach Mädchen riechen.«
»Tust du auch … Du hast einen sehr speziellen Geruch. Zuerst habe ich geglaubt, das sei so, weil du eine Weibliche bist. Aberjetzt bin ich mir, was den Grund angeht, nicht mehr so sicher. Ich weiß nur, dass deine Aura, oder wie auch immer du es nennen willst, echt einzigartig ist. Eine Duftmarke wie deine habe ich noch an niemandem gerochen, weder an Reinmenschen noch an Übernatürlichen.«
»Ob das vielleicht die spezielle Lykaner-Marke ist?«
»Schon möglich.« Tyler schien eine Weile tief in Gedanken versunken.
Im Augenwinkel nahm ich die Lichtverhältnisse draußen vor dem Fenster präziser war: die Abwesenheit des Lichts.
Ich muss relativ erschrocken reagiert haben, denn Tylers Blick zuckte sofort ebenfalls zum Fenster hinüber. »Was ist los?«, wollte er wissen, als ich mich wortlos umdrehte.
Mit großen Schritten hastete ich in Richtung Schlafzimmer und rief über die Schulter: »Herrje, es ist schon stockdunkel!«
KAPITEL FÜNF
H astig kramte ich eine Reisetasche aus meinem Schrank und warf sie aufs Bett. Dann schnappte ich mir an Jeans und passenden Oberteilen, was sich in den Schubladen meiner Kommode finden ließ, und stopfte sie in die Tasche. Verschiedenes aus dem Bereich Unterwäsche packte ich obendrauf. Es folgte die Montur, die ich zum Austeilen von Arschtritten am liebsten trug: elastisch mit eingearbeiteten Polstern an entscheidenden Stellen. Mein Geheimvorrat an Waffen fand ebenfalls seinen Weg in die Reisetasche.
Zum Glück lagen die Wurfmesser alle schön griffbereit in einem Lederfutteral von unauffälliger Größe. Meine Dolche, dazu gedacht und gemacht, rasch Kehlen oder Bäuche aufzuschlitzen, steckten in besonderen Messerscheiden. Ich warf sie auf das andere Zeug und zog den Reißverschluss zu. Draußen würde ich mir noch meine kleine handliche Neun-Millimeter-Glock aus dem Auto holen. Nicht größer als mein Handteller, verschoss sie Hohlmantelgeschosse aus Silber. Diese mit Silberspänen gefüllten Kugeln waren für die besonders lästigen und schwer zu tötenden Bestien gedacht. Für Werwölfe waren Waffen etwas für Weicheier. Aber ich war willens und bereit, alles ins Feld zu führen, nur um Selene auch wirklich zu besiegen.
Weicheiverdächtiges eingeschlossen.
Draußen vor der Badezimmertür ließ ich die Reisetasche fallen. Mit fliegenden Fingern zog ich Fächer mit Schminkutensilien auf und raffte das Nötigste zusammen, um es dann in den geräumigen Außentaschen der Reisetasche unterzubringen. Meinlanges schwarzes Haar band ich zu einem Pferdeschwanz zusammen, schön praktisch für die Reise. Stünden körperliche Auseinandersetzungen an, würde ich es wie immer zu einem Knoten
Weitere Kostenlose Bücher