Halbmondnacht
»Ich konnte ja nicht wissen, dass neue Erkenntnisse über dich alles auf den Kopf stellen würden. Wir waren nicht einmal ganze zwei Tage zu Hause. In Zukunft werde ich immer daran denken, dass auch verdecktes Operieren Teil unseres jeweiligen Plans zu sein hat. Aber bisher sehe ich niemanden, der unseren Aufbruch beobachtet. Also mach dir keine Gedanken.«
»Ich kapiere schon, dass ich ein bisschen überreagiere.« Ich legte einen Schritt Distanz zwischen mich und den Hummer. »Aber jetzt mal die Karten auf den Tisch: Du hast allen Ernstes geglaubt, das gelbe Monsterding da ist die richtige Wahl?«
»Das gelbe Monsterding ist gepanzert, hat vierzig Zentimeter Bodenfreiheit, zwei Benzintanks, eine zusätzliche Batterie, einen Auspuffschnorchel für Tiefwasserfahrten, pannensichere, mit Polyurethan statt Luft gefüllte Reifen und schusssichere Scheiben. Außerdem hat er genug PS unter der Haube, um hundertsechzig Stundenkilometer zu schaffen.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und ließ nur widerwillig den Respekt zu, der sich langsam einstellte. Mein Bruder hatte für alle Eventualitäten inklusive eines Raketenangriffs vorgesorgt, und ich hatte einen Jeep Cherokee gewollt! Er hatte recht. »Okay.« Ich seufzte. »Du hast gewonnen. Du hast den richtigen fahrbaren Untersatz ausgesucht. Aber wir müssen jetzt augenblicklich los. Besser, wir hängen nicht länger mit Bibo hier herum.«
Tyler setzte ein schiefes Grinsen auf und verbeugte sich. Es kam nicht sonderlich häufig vor, dass ich mich seinen Argumenten beugte. »Wir können jederzeit los; sobald die Vampire da sind, heißt das.«
»Darf ich dann bitte wissen, warum die ganze Welt hinter dir her sein wird?«, schaltete sich jetzt Danny ein. »Über die Tatsache hinaus, dass du die einzige Weibliche deiner Art bist, natürlich.«
»Ich erklär’s dir später. Während der Fahrt haben wir noch mehr als genug Zeit zum Reden.« Danny alles haarklein auseinanderzuklamüsern stand momentan nicht gerade weit oben auf der Tagesordnung. Ich ging um das Heck des Monstertrucks herum. »Wo ist Ray?«
Danny deutete in den Fahrgastraum des Hummer. »Er ist abfahrbereit; ist ein richtiger riesengroßer Knuddelbär, der Kerl.«
»Außer er wacht auf und beißt einem den Finger ab.« Sollte es Ray gelingen zu entkommen, würden wir ihn sicher wieder aufspüren. Aber das würde alles nur noch komplizierter für uns machen, und bei meinem Vater würde er damit auch keine besondere Sympathie wecken, im Gegenteil. »Was ist übrigens mit Hausmeister Jeff? Bitte sag mir, dass Ermittlungen seinetwegen laufen, während wir weg sind.« Jeff Arnold, der Hausmeister des Gebäudes, in dem ich wohnte, war ein Werwiesel. Wir hatten ihn geschnappt, als er in meine Wohnung eingebrochen war, kannten aber seine Motive nicht. Wir mussten unbedingt herausfinden, für wen er gearbeitet und vor allem was er bei mir gewollt hatte.
»Klar, die laufen. Heute Morgen habe ich deinen Vater ins Bild gesetzt. Er hat sofort ein paar Wölfe auf den Fall Arnold angesetzt. Wir sollten ein paar Antworten bekommen, sobald wir zurück sind.«
»Sehr gut.« Plötzlich hallten Schritte vom Gehweg am anderen Ende des Parkplatzes zu uns herüber. Ich war dabei, die Reisetasche auf der Ladefläche des Hummer zu verstauen. Ein kurzer Blick über die Schulter verriet mir, dass Nick und James auf dem Weg zu uns waren. Meine Tasche quetschte ich oben auf einen Stapel aus Kühlbehältern, Zelten, Schlafsäcken und Vorräten aller Art, der sowieso schon beinahe bis zum Fahrzeughimmel reichte. Mein Bruder war in der Tat gut und auf alles bis zum Ausnahmezustand vorbereitet.
Während ich die Tasche verstaute, musterte ich Rays zusammengesunkene Gestalt im Wageninneren. Er saß auf der Rückbank und war ein wenig zur Seite gesackt. Ich konnte die Enden seines Knebels erkennen und hörte ihn atmen, aber er war offenkundig bewusstlos. Wahrscheinlich hatte er Danny ordentlich Schwierigkeiten gemacht.
Nick erreichte mich als Erster. »Rieche ich da etwa Ray Hart?« Er spähte an mir vorbei auf den Rücksitz und schnüffelte in Rays Richtung, um sich zu vergewissern.
»Ja. Das mag nicht gerade ideal sein, aber ich habe es nicht über mich gebracht, ihn umzubringen«, erklärte ich. »Da spricht vielleicht meine schwache menschliche Seite aus mir. Aber mein Vater hat gesagt, wenn Ray sich einfügt, darf er am Leben bleiben. Ich weiß, ich weiß: Er war jahrelang wie ein Besessener hinter mir her. Nur wollte mir
Weitere Kostenlose Bücher