Halbmondnacht

Legenden vom Y Gwir Lycae . Da es einige Übereinstimmungen gibt, die auf jemanden hindeuten, der etwas Einzigartiges ist, glaubt er, es könnte auf mich zutreffen. Jedenfalls ist er momentan noch dieser Meinung.
    Y Gwir Lycae? Du?
    Du kennst die Legende?
    Es gibt wohl jede Menge Variationen, und einige davon kenne ich, ja. Wenn Dad die jährliche Ratsversammlung abhält, sitzen die alten Wölfe zusammen, trinken und schwelgen in Erinnerungen. Dabei habe ich das ein oder andere aufgeschnappt. Wie kommen sie jetzt so plötzlich darauf, eine Weibliche könnte Y Gwir Lycae sein?
    Offenkundig gibt es im Wortlaut Parallelen zu der Prophezeiung, von der ich sprach, die, die im Internet kursiert. Irgendwie so. Keine Ahnung, woran genau sie es festmachen. Meiner Interpretation nach geht es in dieser ominösen Prophezeiung um eine vorzeitliche Weib l iche, deren Job es war, das Böse in der Welt der Übernatürlichen zu bezwingen. Ich habe nicht kapiert, ob diese Weibliche die Erste in einer Reihe von Teufelsbezwingerinnen war oder ob sie regelmäßig alle tausend Jahre erscheint, um mal wieder Leben in die Bude zu bringen.
    Tyler fuhr sich mit der Hand durch das Haar und atmete, halb pfeifend, halb seufzend, hörbar aus. Und was glaubst du, was die Prophezeiung bedeuten soll?
    Ich glaube, dass der Text sehr viel Spielraum für Interpretationen lässt, um es vorsichtig auszudrücken. Ich habe Dad gesagt, dass ich mich kein Stück anders als zuvor fühle. Ich habe nicht das Gefühl, ich sei jetzt jemand anderes, jemand Neues. Ich fühle mich exakt wie immer. Ich bin ich.
    Tyler stieß sich vom Türrahmen ab und ging mit großen Schritten ins leere Wohnzimmer hinüber. Ich folgte ihm. »Ich glaube, es bedeutet, dass du stark und mächtig bist«, sagte er laut. »Du kannst deine Lykanergestalt behalten und so kämpfen. Das zumindest wissen wir ja nun aus eigener Erfahrung. Und das wiederum bedeutet, egal, ob du nun tatsächlich Y Gwir Lycae bist oder nicht, du bist in jedem Fall eine Lykanerin.«
    »Stimmt wohl«, erwiderte ich gedehnt.
    »Jess, wir alle sind Abkömmlinge von Lykanern. Sie waren die ersten Gestaltwandler auf Erden. Wir tragen ihre DNA in uns. Ich glaube, du hast einfach den ganzen Satz Genmaterial auf einmal abgekriegt. Dads Genmaterial zeichnet ihn als jemanden von Macht und Stärke aus. Sonst wäre er kein Alpha. Seine Abstammungslinie muss bis tief in die alten Zeiten zurückreichen.«
    »Hm, tja, richtig.« Ich wusste nicht recht, wohin diese Gedankenspiele wohl führten. Aber ich war schon dankbar dafür, dass Tyler nicht fuchsteufelswild aus meiner Wohnung stürmte und mich einfach stehen ließ. Ein starker, alpha-geborener Wolf, der in der Rudelhierarchie über mir stand, konnte es nur unerträglich finden, zu hören, eine Weibliche sei mächtig. Dabei spieltees keine Rolle, ob wir Blutsverwandte waren oder nicht. »Soweit kann ich dir folgen, okay: Wir alle haben Lykanergene in uns, und bei mir sind sie eben dominant und daher in den Vordergrund getreten. Das ergibt schon einen gewissen Sinn. Aber es erklärt nun einmal nicht alles.«
    »Was sagt denn die Prophezeiung sonst noch?«
    »Es heißt dort, ich sei innerhalb der übernatürlichen Art so etwas wie eine Stifterin von Recht und Gerechtigkeit.«
    »Wie soll das denn gehen? Steht da, wie du das machst, Recht und Gerechtigkeit stiften?«
    Ich lachte. »Nö, mit keinem Wort, und ich habe auch keinen blassen Schimmer, wie das gehen soll. Darum stehen wir jetzt auch hier und reden darüber. Damit du in jedem Fall weißt, dass Dad und ich von einem vollkommen überzeugt sind: Damit, dass ich der nächste Alpha sein könnte oder sein soll, hat das nichts zu tun. Ich bin keine Bedrohung für deinen Status im Rudel.« Tyler war dafür ausersehen, meinem Vater in der Rudelführung nachzufolgen. Jeder Wolf im Rudel wusste das. Alpha-geboren zu sein war etwas deutlich anderes, als Alpha zu sein. Alphas waren die Anführer eines Rudels, Führungspersönlichkeiten von großer Durchsetzungskraft, dominante Wölfe, die von Natur aus aggressiv waren.
    »Das weiß ich.«
    Mir klappte fast der Kiefer herunter. »Was meinst du mit ›das weiß ich‹?«
    »Diese ganze Sache mit den Gerüchen, über die wir eben gesprochen haben, erinnerst du dich?«
    »Ja, klar.«
    »Ich bin richtig gut darin.«
    »Was heißt?«
    »Wenn es deine Bestimmung wäre, Alpha zu werden, wüsste ich das bereits.«
    »Was haben denn Gerüche damit zu tun, wer Anführer des Rudels ist?«
    »Dad