Halbmondnacht
zur Ehre. »Es war nicht meine Schuld, dass sich meine Kerkermeisterin mir gegenüber sorglos und vertrauensselig verhielt. Sie hätte meinen vorsichtigen Umgang mit ihr nicht mit Hingabe und Ergebenheit verwechseln dürfen.«
Dafür zu sorgen, dass Naomi von nun an stets auf meiner Seite bliebe, war ein absolutes Muss. Sie stellte sich mehr und mehr als sehr clevere und machtvolle Übernatürliche heraus. Man durfte sich von ihrer zierlichen Gestalt, den zarten Schultern und der schmalen Taille nicht täuschen lassen: Sie war eine kaltblütige Killerin.
»Wenn das Kreuz Übernatürliche heilen kann, warum hat dein Bruder es nicht auch bei dir eingesetzt? Warum musste es stattdessen das Blut meiner Schwester sein?«, mischte sich nun Tyler ein, grollend und misstrauisch wie gehabt. Er war zwar ruhiger als zuvor, aber nur unwesentlich.
Naomi sah Tyler direkt ins Gesicht und hielt seinem Blick stand. »Für den Eigner des Kreuzes besteht eine Einschränkung. Seine Magie lässt sich nicht gegen ihn selbst verwenden, kann ihm aber auch nicht helfen. Seine Zauberkraft wirkt nicht bei mir, obwohl das Silber auf meiner Haut sein Zeichen hinterlässt. Selene hat einen hohen Preis für die Fertigung des Kreuzes bezahlt. Es sollte ihr zum Sieg über mächtige Feinde verhelfen. Sie hat die Rückversicherung in seine Magie einweben lassen, dass es sich nie gegen sie selbst verwenden ließe. Aber jene, die für Selene das Schmuckstück fertigten, besaßen selbst magische Kräfte. Sie spielen gern Spielchen. Also ließen sie in den Zauber des Kreuzeseinfließen, dass nur derjenige das Schmuckstück besitzen solle, der es fände. Legte sie es einmal aus der Hand und jemand anders erklärte es zu seinem Besitz, so konnte der neue Besitzer das Kreuz auch gegen Selene einsetzen. Damit hat im Grunde sie selbst das einzige Werkzeug auf Erden erschaffen lassen, mit dem man sie besiegen kann. Denn mit ihm kann man sie ihrer magischen Kräfte berauben.«
»Wer immer das Kreuz erschaffen hat, wird diesen kleinen Schabernack, der gegen Selene zielt, ja wohl kaum an die große Glocke gehängt haben. Wie hast du davon erfahren?«, wollte ich wissen. »Immerhin kein risikoloses Spielchen, ausgerechnet eine Göttin so auszubooten.«
Naomi zuckte mit den Achseln. »Ich wusste es nicht, bis ich ihr das Kreuz ins Fleisch getrieben habe. Es hat funktioniert. Zugegeben, ich hatte eine Ahnung. So ergeht es mir bei derlei Dingen häufig. Aber das war alles.«
»Du hast dich beim Angriff auf eine Göttin auf eine Ahnung verlassen, echt?«
Naomi begann am Waldrand auf und ab zu gehen. Eamon war immer noch wütend, aber er hatte sich wohl entschieden zu schweigen, während seine Schwester mit uns sprach. Es war nicht schwer zu erkennen, dass er nicht die Macht hatte, sie aufzuhalten. Anderenfalls hätte er längst davon Gebrauch gemacht. »Das Leben hatte für uns jeden Wert verloren«, sagte Naomi schließlich ohne große Gemütsbewegung. »Die Belastungsgrenze war erreicht. Damit, endgültig zu sterben, hatte ich mich abgefunden. Pas de problème . Ich erwartete den wahren Tod sogar mit Freuden.«
»Aber du hast immer noch das Kreuz«, bohrte ich verwirrt nach. »Und Selene ist immer noch am Leben. Wie bist du wieder in den Besitz des Kreuzes gelangt, nachdem du es in sie hineingerammt hattest? Sie muss doch geschäumt haben vor Wut und ist dir sicher gleich hinterher. Ich denke mal, der Kampf der Titanen war nichts dagegen.«
Naomi blieb stehen. »Sie hatte keine Zeit mehr, uns anzugreifen. Kaum dass das Kreuz ihre magischen Kräfte neutralisiert hat, habe ich sie geköpft.«
»Holla!«, entfuhr es mir vollkommen perplex. Das hatte ich nicht erwartet.
Danny stieß einen Pfiff aus; Tyler schnaubte.
»Aber wie kann sie eine Enthauptung überleben?«, fragte ich. Enthauptung war das einzige Mittel, um einen Übernatürlichen zu töten, selbst eine Übernatürliche mit der Macht einer Göttin. Kein Kopf bedeutete ja immerhin: kein Gehirn. Ohne Gehirn war zwischen den entscheidenden Körperteilen, die einen am Leben erhielten, keine Koordination mehr möglich.
»Sie ist eine Göttin«, meinte Naomi und zog fast entschuldigend die Schultern hoch. »Ich habe erst später und damit zu spät erfahren, dass man eine Gottheit nur auf eine Weise töten kann: Man muss das in ihrem Blut vernichten, was ihr die Unsterblichkeit schenkt. Nur ihren Körper zu töten reicht also nicht. Ich hatte Selene liegen lassen, damit sie verrottet. Das hat nicht
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