Halbmondnacht
Wissen ließe sie sich leichter besiegen. Was also wirst du, werdet ihr beide, dein Bruder und du, jetzt tun?«
Tyler stand neben mir. Er schwieg. Aber seine Wut brachte auch mein Blut ganz schön in Wallung.
Ganz langsam breitete sich ein Lächeln über Naomis Gesicht aus. Mit diesem Lächeln erschien sie weicher, menschlicher und gleichzeitig, es war verblüffend, grausamer als je zuvor. Immer noch war sie blutverschmiert, das Blut längst getrocknet und dunkel, fast schwarz. Daneben wirkte die Porzellanhaut über ihren Wangenknochen noch weißer, übernatürlich weiß, unmenschlich. » Alors , jetzt, wo ihr alles wisst, haben sich, so meine ich, die Regeln geändert.«
In diesem Moment rauschte Eamon wie ein Windstoß neben seiner Schwester zu Boden. »Naomi, sei jetzt endlich still, sag nichts mehr! Unsere Königin wird einen weiteren Mangel an Verschwiegenheit nicht tolerieren! Wir sind der Grenze zu Selenes Einflussbereich ganz nah. Die Werwölfe dort hinzuführen war unsere Aufgabe und Pflicht, mehr nicht. Wir bringen sie jetzt genau bis dorthin und verlassen sie dann. Und damit ist Schluss.«
Naomis Entgegnung bestand aus einem einzigen Wort. »Non.«
KAPITEL ELF
S ie zur Grenze zu bringen und dort zu verlassen ist nicht das, was wir tun werden, Bruder.« Sogleich setzte Eamon zu einer Entgegnung an. Aber Naomi legte ihm die Hand auf den Arm und brachte ihn so zum Schweigen. Er musste sich irgendwo hoch oben in den Baumwipfeln versteckt gehalten und uns die ganze Zeit über zugehört haben. Meine Abneigung gegen den Vampir erklomm neue, ungeahnte Höhen. »Bitte denk daran, was hier gerade eben erst geschehen ist. Unser Auftrag lautet, sie zur Grenze von Selenes Einflussbereich zu führen und sie vor Gefahren zu warnen; vor allen Gefahren. Das ist unsere Pflicht. Die geflügelten Teufel hatten wir beide hier nicht erwartet. Sie bewegen sich ja auch viel zu weit außerhalb von Selenes Reich. Hier geht etwas vor, das nicht sein darf und nicht sein soll. Wir tun gut daran, dem auf den Grund zu gehen, ehe es unser aller Ende bedeutet. Die Grenzlinie zu Selenes Reich wurde augenscheinlich verschoben, und wir werden darauf entsprechend reagieren.«
»Aber das ist mitnichten unser Auftrag und damit auch nicht unsere Pflicht«, beharrte Eamon. »Wir haben allein dem Befehl unserer Königin zu gehorchen, sonst nichts. Wir sind nicht gefordert, unnötig Wissen preiszugeben oder uns dem entgegenzustellen, was uns in dem Reich hinter dieser Grenze erwartet. Die Königin wird nicht erfreut sein, sollten wir ihren Wünschen nicht folgen.«
»Ich schulde den Wölfen mein Leben. Würdest du solch eine Schuld nicht abtragen?« Naomi neigte den Kopf fragend zurSeite. »Würdest du lieber wieder den Schwanz einklemmen und machen, dass du wegkommst?«
»Selbstverständlich tragen wir eine Schuld, in der wir stehen, auch ab«, ereiferte sich Eamon zornig. »Aber das muss gemäß den Gesetzen unserer Gemeinde geschehen. Wir erstatten der Königin Bericht und erwarten dann ihre Befehle. Sie wird entscheiden, in wessen Schuld wir stehen und was wir tun müssen, um diese Schuld abzutragen. So haben wir es immer gehalten.«
»Mein Leben verdanke ich allein einem: dem Blut einer Unsterblichen. Ein Geschenk wie dieses nicht unverzüglich zu vergelten, ist undenkbar! Wir tragen unsere Schuld ab, indem wir auf ihre Erfordernisse reagieren. Und das bedeutet, dass wir sie und ihre Begleiter bis zum Portal von Selenes Zuflucht geleiten und mit ihnen das Wissen teilen, das für ihr Überleben notwendig ist.«
»Die Königin wird ungehalten sein.«
»Die Königin ist Diplomatin durch und durch.« Naomi verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn wir jetzt zurückkehren und diejenige, in deren Schuld ich stehe, in der Not alleinlassen, riskieren wir einen Krieg mit den Wölfen, n’est-ce pas? « Sie suchte meinen Blick und zog fragend eine Augenbraue hoch.
»Ähm, ja, doch. Auf jeden Fall«, antwortete ich und nahm damit den Ball auf, den sie mir zugespielt hatte. »Eamon, ihr könnt uns jetzt unmöglich im Stich lassen. Eure Königin wird sicher keinen Krieg wollen. Es ist Gesetz, dass Wölfe, soweit es ihnen möglich ist, sofort dafür einstehen, wenn sie bei jemandem eine Schuld abzutragen haben; besonders, wenn sie diesem Jemand ein Leben schulden. Wer lässt eine solche Rechnung schon gern offen! Wenn diese Schuld nicht jetzt zurückgezahlt wird, da Bedarf besteht, könnte ich bei unserer Rückkehr meine Forderung eurer
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