Halloween
das Klitellum auf, streicht es von der Liste.
«Welches sind die Eierstöcke?», fragt Sean und beugt sich vor.
Die rosa Knötchen glänzen, und Tim muss daran denken, wie wir aufgeschnitten und wieder zusammengenäht wurden (es war bloß Toe). Er malt sich aus, wie Danielle auf einem Tisch liegt, der Körper in der Mitte aufgetrennt, weit geöffnet wie eine Flügeltür, und ihr normales Gesicht beobachtet ihn von oben. Der Todesgeruch steigt von dem Blech auf wie Wärme, und Tim hört jemanden schlucken und würgen. Ein Metallhocker kippt um, und mit erhobenem Skalpell sieht Tim, wie Tracy Paley zur Tür rennt, eine Hand auf den Mund gepresst, der andere Arm nach vorn gestreckt wie bei einem Halfback. Sean lacht bereits, genau wie der Rest der Klasse, die befreiende Komik ihres Davonstürzens unentbehrlich (eine günstige Gelegenheit, um einen Blick auf das Blatt des Nachbarn zu werfen). Aber im nächsten Moment verstummen alle, denn Tracy schafft es nicht, sie bleibt plötzlich kurz vor der Tür stehen und krümmt sich, der erste Schwall quillt zwischen ihren Fingern durch und platscht ihr vor die Füße, und Mrs. Blaustein weicht einen Schritt zurück, bevor sie sie in den Flur rausschiebt. Die Tür schließt sich langsam, aber ein weiteres Ächzen ist zu hören. Dann nichts mehr.
«Das war ja
eklig
!»
,
sagt Sean triumphal.
«Wart’s erst mal ab, wenn Schweineföten drankommen.» Das Erbrochene liegt da wie ein Geschenk für den Hausmeister. Alle lachen, spielen die Szene nach, tauschen offen ihre Antworten aus. Tracy hat sie gerettet, und Tim wünscht sich, dass er im Gegenzug sie retten kann, dass das, was er tun wird, alle das geradeGeschehene vergessen lässt. Er weiß, dass es nicht so kommen wird. Man wird sich an beides erinnern, aber mit einem Unterschied: Tracy wird lernen müssen, ihres zu vergessen, aber wie stellt man das an? Er hat es versucht. Die Leute – die Umstände – lassen es nicht zu.
Er und Sean markieren die Organe, gehen eins nach dem anderen durch und lernen. Da ist der Nervenstrang, da das subneurale Gefäß. Es ergibt einen Sinn. Als sie fertig sind, die Fähnchen alle an ihrem Platz, begreift Tim, dass sie ihn und Kyle genauso aufschneiden werden, aber in seiner Erleichterung ist ihm das egal. Er wollte bloß den Test bestehen, und das hat geklappt. Jetzt kann er wieder schlafwandeln, auf den richtigen Augenblick warten, sein pochendes Geheimnis im Innern verschließen, bis es zu spät ist, es ihm zu entreißen.
Beim Mittagessen sitzt neben Kyle der Junge, der beim Aussteigen aus dem Bus mit dem Gesicht aufgeschlagen ist. Zack. Er ist ungefähr zwölf, spindeldürr, hohe Stirn, der Mund offen, als wäre er auf Drogen, und vielleicht stimmt das auch, er steht unter dem Einfluss von Ritalin. Sie haben ihn sauber gemacht und ihm ein viereckiges Heftpflaster übers Auge geklatscht, aber Kyle erkennt die braune Kruste auf der Innenseite der Unterlippe wieder, eine schokoladenfarbene Hochwasserlinie, die nass von trocken trennt, kann sie fast mit der Zunge spüren und die blutgetränkte Schwellung wieder schmecken.
(In jener Nacht waren wir, nachdem die Krankenschwestern gegangen waren, mit seinen Eltern im Zimmer. Er war am Leben, schlief unter einem Gewirr aus Schläuchen, und sie waren beide voller Hoffnung, voller Zweifel, versuchten, die Gedanken des anderen zu lesen und zu einer Antwort zu kommen, die sie glauben konnten. Wo konnten sie am nächsten Morgen hingehen? Nicht nach Hause, dort säßen sie in der Falle. Kyle war jetzt ihre Welt, jede Operation ein Todesurteil, das sie unterzeichnen mussten.Sie blieben da, ängstlich und unsicher, und verziehen ihm alles, während unsere Eltern bei Vincent’s anriefen und über Särge und Besuchszeiten, über die Auswahl an Blumenbuketts sprachen. Tim besuchte ihn erst, als wir schon unter der Erde lagen, und berührte seine reglosen Finger, vorsichtig wegen der Infusionsnadeln, die in seinem Handrücken steckten. Kyles Gehirn war wie ein Teich in einem Schneesturm, das von Tim wie eine Mikrowelle, die nichts aufwärmt, deren leerer Drehteller im summenden Licht kreist. Jede Minute kam ein Signal von Danielle, das ihn lähmte wie ein Elektroschocker, während Kyles Hirnwellen kilometerlange gerade Linien zeichneten. Alle wollten, dass er wieder gesund wurde, alle wollten, dass er starb.)
«Tut dir der Kopf weh?», fragt Kyle.
«Nein», sagt Zack und widmet sich wieder seinem Keks, hält ihn mit beiden Händen, als wäre er
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