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Halloween

Halloween

Titel: Halloween Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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uns träumt, obwohl es bloß seine Erinnerung war, nüchtern und undramatisch, die normale Qual. «So kannst du doch nicht weitermachen», flehte sie ihn an, wenn sie ihn dabei ertappte, wie er im Keller wieder die Fotos durchging. Es klang, als könnte er es sich aussuchen, als würde ein Monat psychologische Beratung ihn alles vergessen lassen.
    Er läuft auf Autopilot, aufgewühlt von der Vergangenheit, versucht, Zeit gutzumachen. Es ist nicht mehr weit. Einmal rechts, einmal links, und schon ist er in seiner Straße. Ohne den Briefkasten erkennt er seine Einfahrt nicht mehr und fährt zu weit, tritt auf die Bremse und schlägt das Lenkrad scharf ein. Die Reifen versuchen sich festzukrallen, rutschen weiter, als die Schnauze des Vic abtaucht, und er muss zurücksetzen.
    Hinter der Wand aus Kiefern ist der Garten erleuchtet, das Haus eine weiße Torte, die geschmolzen über die Windschutzscheiberinnt. Er ist mit den Gedanken bei dem Bericht – der neben seinem Computer auf dem Schreibtisch liegt – und dem Abschnitt, den er braucht: Tims freiwillige Aussage (wir haben nichts freiwillig von uns gegeben, und Kyle war total hinüber). Erst als er in die Einfahrt biegt und die Wischerblätter die Scheibe vom Regen befreien, sieht er, dass irgendwas nicht stimmt.
    Sein Herz kribbelt wie ein angeschlagener Musikantenknochen; an den Armen bildet sich eine Gänsehaut. Jemand war da. Graffiti verschmelzen mit den schwarzen Schatten auf der Veranda, riesige, mannshohe Buchstaben in dicker Sprühfarbe, ein einziges Wort, unterbrochen von der Haustür. Er kann es von der anderen Seite des Gartens lesen und – das kommt einem Eingeständnis gleich – findet sich damit ab, dass es für ihn bestimmt ist: LÜG NER .
    Sein erster Gedanke ist, dass es nicht Tim gewesen sein kann – der ein Recht dazu hätte.
    Sein zweiter Gedanke gilt Ginger und Skip. Die Fensterscheiben sind eingeworfen. Wer das verbrochen hat, könnte auch ihnen was angetan haben.
    Wahrscheinlich ging alles blitzschnell, ein Kommandoüberfall wie in den Orchard View Estates. Jugendliche, die uns gekannt haben. Er sieht den Golf vor sich, durch den Wald vielleicht einen Kilometer entfernt.
    «Scheißkerle», sagt Brooks. Er fährt den Vic bis zur Garage und schaltet auf Parken, greift unwillkürlich nach seinem Mikro, hält dann aber inne und zieht die Hand bedächtig zurück. Das hier wird er nicht melden.
    Als er aussteigt, bellen die Hunde. Er ist erleichtert, kann sich aber noch nicht entspannen. Unsere Freunde könnten im Wald sein und darauf warten, dass er einen Fehler begeht. Er rennt über den Weg und die Stufen rauf wie der Leiter einer Spezialeinheit, blickt sich ständig um, ob sich irgendwo was bewegt. Der Verandaboden ist mit Steinen und Eierschalen übersät, von derPlastikverkleidung tropft Eigelb. Die Tür ist abgeschlossen. «Alles okay», ruft er den Hunden zu, «ich bin’s bloß», aber sie glauben ihm nicht (und sie haben Recht; wie immer sind wir direkt neben ihm). Er muss nach seinen Schlüsseln kramen und fühlt sich beobachtet und dann – wie bei dem Typen, der versucht, seinen Wagen anzulassen, während das Monster schon zum Fenster reingreift – hantiert er damit, lässt sie klirrend fallen und muss sie wieder aufheben.
    Nichts passiert. Kein Werwolf taucht auf. Keine Hand kracht durch die Tür und packt ihn an der Gurgel. Er schließt auf, und Ginger und Skip sind da und weichen misstrauisch zurück.
    «Alles in Ordnung», sagt Brooks, und sie kommen angetrottet, um ihn zu begrüßen. Ginger senkt den Kopf und stupst sein Knie an, ihre Art, ihn zu umarmen. Brooks kniet sich hin und zieht die beiden an sich, ihre Nasen feucht, ihr Atem heiß in seinem Gesicht. «Ich weiß», sagt er.
    Überall auf dem Teppichboden liegen Glasscherben, Steine. Der Fernseher ist noch da. Brooks untersucht ihre Pfoten und lässt die beiden dann zur Hintertür raus. Bellend fegen sie die Verandastufen runter und nehmen den Garten wieder in Besitz, und als sie damit fertig sind, laufen sie schnuppernd ums Grundstück. Skip bleibt vorm Schuppen stehen; Brooks geht in den Regen raus, um nachzusehen, aber der Schuppen ist abgeschlossen.
    Als sie wieder reinkommen, gibt er ihnen was Leckeres und überredet sie mit süßen Worten, unten ins Bad zu gehen, der einzige Raum, in dem die Fensterscheiben nicht zerbrochen sind. Solche Einsätze hat er schon hundertmal gehabt; jetzt begreift er, wie man sich fühlt, die Wut und Hilflosigkeit

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