Halloween
dünne Haar und der glatte Schädel unter ihren Fingern beschwören das Bild von Kyle herauf, von dem Schlauch, der aus seinem rasierten Schädel ragte, den schwachen Spuren der lila Markierung, die der Chirurg für die Schädeleröffnung aufgemalt hatte. Der hatte später im geschlossenen Wartezimmer mit ihnen gesprochen, noch im Operationskittel, hatte sich auf den Tisch voller Zeitschriften gesetzt, damit er genau auf Augenhöhe war. Es war eine endlose Nacht gewesen, und er roch verschwitzt, als wäre er gerade vom Sport gekommen. «Ich will nicht drum herum reden», sagte er. «Ihr Sohn hat eine äußerst ernste Verletzung erlitten.» Sie hätte ihn am liebsten ausgelacht. Hielt er sie für beschränkt? Natürlich war es eine ernste Verletzung; sein Gesicht war zertrümmert. Der Arzt redete mit ruhiger Stimme und legte die möglichen Komplikationen dar. Die Wahrscheinlichkeit eines dauerhaften Gedächtnisverlusts sei in so einem Fall hoch. Über Kyles motorische Fähigkeiten wolle er erst spekulieren, wenn der Junge wieder bei Bewusstsein sei. Es sei möglich, dass er nicht mehr aufwache – unwahrscheinlich, aber doch möglich, das wolle er unmissverständlich klar machen. Während des ganzen Gesprächs hielt Mark ihre Hand, ihre vier Hände umklammerten sich und drückten sich gegenseitig, eine Art Doppelgebet.
Unter ihm liegend, kehrt sie zurück, schuldbewusst und enttäuscht über sich. Hör auf, würde sie am liebsten sagen, tut es aber nicht. Die Dunkelheit verbirgt sie, und aus jahrelanger Erfahrung weiß sie, dass sie ihn zufrieden stellen kann, ohne wirklichanwesend zu sein. Es gibt keinen Grund, warum sie sich beide so fühlen sollten.
«Ich liebe dich», sagt er hinterher, und sie wiederholt es gefühlvoll. Sie meint es ernst, aber das ist unerheblich. Sie liegen ruhig da, bemüht, die Gedanken des anderen nicht zu lesen. Ein Düsenflugzeug durchkämmt über ihnen die Wolken, und im Sinkflug pfeifen seine Motoren. Er hält sie lange im Arm, bis sie geht, um sich abzuwischen. Während sie durchs Zimmer tappt, hört sie, wie er Papiertücher aus der Schachtel rupft.
Allein auf dem Klo, lauscht sie dem Regen, der ans Fenster trommelt, und denkt, dass Kyles Schicht fast vorbei ist, dass er bald zu Hause sein wird. Sie wird sich eine Tasse Kaffee machen und seinetwegen aufbleiben, wird versuchen, so zu tun, als wäre diese Nacht nichts Besonderes, nicht ihr Jahrestag. Kyle wird es nicht wissen.
Kyles Dad hält ihr die Decke hoch. Sie ist nicht wütend auf ihn; er ist genauso hilflos wie sie, und doch hegt sie einen Groll, als wäre er geflüchtet, als hätte er sich irgendwie darum gedrückt, seinen Teil der Verantwortung zu übernehmen. Er grämt sich; er ist nicht herzlos. Sie versteht, dass er sich fürchtet und ihm die Aussicht, dass Kyle immer so bleibt, schreckliche Angst einjagt, dass er sich am liebsten nicht damit beschäftigen würde. Aber jemand muss es tun.
Er will einen Gutenachtkuss haben, ein Ritual, das älter ist als Kyle oder Kelly, und sie gibt ihm einen. Im Dunkeln kann er nicht sehen, dass sie besorgt ist, und es ist zu spät, um darüber zu sprechen, es ist die falsche Nacht. Sie haben immer im Bett geredet, haben sich gestritten und dann wieder versöhnt. Hier haben sie gemeinsam ihre wichtigen Entscheidungen getroffen, während die Kinder schliefen. Jetzt vergleichen sie beim Frühstück ihre Arbeitszeiten und können von Glück sagen, wenn sie einmal im Monat miteinander schlafen.
Sie liegt da, todmüde und bemüht, wach zu bleiben, eine vertrauteErschöpfung. Es war ein langer Tag. Das Ticken ihrer Armbanduhr auf der Kommode vermischt sich mit dem Prasseln des Regens. Ein weiteres Flugzeug schrammt durch die Luft – FedEx oder UPS; es ist schon so spät, dass in Bradley keine Passagiere mehr landen. Er ist neben ihr eingeschlafen. Sie beneidet ihn darum, wie leicht er einschläft, so unnatürlich – so gefühllos – ihr diese Gabe auch vorkommt. Sie kann sich diesen Luxus nicht leisten, schließt aber die Augen, nur für einen Augenblick. Das Bett ist warm, die Decken behaglich wie ein Kokon. Es ist gefährlich, so müßig zu sein. Sie muss aufstehen und Kyle ins Haus lassen. Morgen ist der Monatserste; sie muss für seine Milch einen Scheck ausschreiben. Sie sieht vor sich, wie Peggy anhält, der Bus voller Kinder, ein sonniger Tag, das Gras sommerlich grün.
(Und plötzlich tritt Kyle aus der Dunkelheit und kniet sich neben sie, hält die Hand über ihr Gesicht, als
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