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Halloween

Halloween

Titel: Halloween Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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In der Stadtmitte bloß noch der Double Down Grill, der Rest der alten Einkaufszeile schläft schon. Die Vorbeifahrenden sehen den angestrahlten Kirchturm mit der stehen gebliebenen Uhr und die glänzenden Autoreihen von O’Neill Chevrolet, aber nichts, das sich bewegt. Das Kleiderkarussell bei Battison’s im Schaufenster ist erstarrt, die Schaufensterpuppen bei Victoria’s Secret unbeachtet.
    Draußen in den Hügeln ist Halloween vorbei, nur im Fernsehen noch nicht, und der blaue Lichtschein ergießt sich in die Gärten wie etwas Giftiges. Die meisten Häuser sind dunkel. Alle, die am nächsten Tag arbeiten müssen, liegen schon im Bett, die Wecker gestellt. Die Straßenlaternen werfen die Schatten der Zweige auf leere Kreuzungen; Briefkästen und Steinmauern bewachen kilometerweit die stillen Straßen.
    Der Regen hat sich der Zwischenstationen angenommen, an denen wir immer zu finden waren – der Eisenbahnbrücke hinter der Autowaschanlage, der hintersten Zuschauertribüne im Sperry Park. Sogar der Picknickpavillon in Fisher Meadows und die kleine Schutzhütte auf dem Golfplatz liegen verlassen da. Außer Travis und Greg ist niemand unterwegs. Das haben wir an Avon immer gehasst. Es ist eine verdammte Geisterstadt.
     
    Ihr erster Gedanke ist, dass sie nicht schlafen darf, und sie bemüht sich aufzuwachen. Die Decke liegt auf ihr wie eine schwere Last. Sie windet einen Arm frei und dreht sich um, damit sie auf die Uhr schauen kann. Gott sei Dank – es ist erst kurz nach elf. Sie sieht vor sich, wie Kyle eine Ewigkeit auf der Treppe vorm Haus steht und darauf wartet, dass sie die Tür öffnet.
    Sie gleitet aus dem Bett und steckt die Arme in den Morgenrock, still wie ein Spion. Das Licht draußen genügt, um ihr den Weg zu zeigen, ein bleiches Viereck an der Decke. Vorsichtig legt sie die Hand auf den Türgriff, zieht die Tür hinter sich zu, sodass der Flur völlig im Dunkeln liegt, und tastet dann blind nach dem Schalter oben an der Treppe.
    Sie schaltet nur an, was sie braucht, das Flurlicht und eine Tischlampe im Fernsehzimmer. (Und da taucht schon der echte Kyle direkt neben ihr auf, anhänglich wie ein Schatten.) Die Nachrichten laufen, die Katastrophen des Tages, die darauf warten, vergessen zu werden. Drei Tote, zwei Schwerverletzte in Meriden, ein Geländewagen, der sich überschlagen und den Verkehr zum Stillstand gebracht hat. Manchmal denkt sie, es könne kein Zufall sein, dass alles sie ständig an ihr Leben erinnert. Sie hat sich an die Einminutenberichte gewöhnt, an die kaputten Autos mitten auf der Straße und das Interview mit dem Staatspolizisten. Dass sie den schwierigen Teil unter den Tisch fallen lassen, sollte ihr egal sein, denn sie weiß, wie vertraulich der Rest der Geschichte ist, die dahinschleichenden Wochen und Monate an Kyles Seite, in denen sie laut gelesen, sich übers Bett gebeugt und ihm alles Mögliche ins Ohr geflüstert hat, in der Hoffnung, dass ihre Stimme den Bann brechen könnte. Sie kann sich nicht vorstellen, die Kameras auf sich gerichtet zu sehen wie in diesen Fernsehsendungen, ihr Leid in Unterhaltung verwandelt.
    Die Zuschauer hätten Kyle geliebt, das Drama seines Wiedererwachens. Als er endlich wieder zu sich kam, erkannte er sie nicht mehr. Der Arzt sagte, das sei normal. Sie müssten ganz vonvorn anfangen. Die Lehrerin in ihr dachte sofort an Leselernkarten, Namen und Bezeichnungen für alles, an Richard-Scarry-Bilderbücher, daran, wie sie zu zweit die Welt Wort für Wort zurückerobern würden, nur dass er nicht lesen konnte. Diese Form des Spracherwerbs würde er nie kennen lernen. Der Schlüssel zum Erfolg sei Wiederholung, sagte der Therapeut und gab ihr eine Liste von Sätzen, mit denen sie sich zwischen den Besuchen beschäftigen sollten. «Ich heiße Kyle Sorenson», rezitierte er wie ein Kind. «Ich wohne im Indian Pipe Drive 53.» Tag für Tag, bis er ihre Telefonnummer wiederholen konnte, und dann ihren Namen.
    Sie nannte ihn Kyle – sein Name, und doch war es ein seltsames Gefühl. Sie hatte es als selbstverständlich betrachtet, dass er nach seiner Genesung wieder derselbe Mensch sein würde. Aber das stimmte nicht. Sein neues Gesicht war eine Maske voller Narben, sein Körper ausgemergelt; sogar seine Stimme hatte sich verändert, sein Geschmack, sein Gang und seine Haltung. Sie kannte ihn auch nicht mehr.
    Ein Jahr später glaubt sie, dass sie ihn mittlerweile liebt, falls sie jemals damit aufgehört hat. Sie ist seine Mutter, so kennen die

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