Halo - Tochter der Freiheit
Umhang gewickelt, hockte Halo in der Kapitänskabine. Sie fühlte sich elend. Als einer der Seeleute zu ihr hereinschaute, spuckte sie ihn an und verfluchte ihn im Namen der Göttin Artemis. Nach diesem Vorfall schloss der Kapitän die Tür ab, und die Seeleute ließen sie in Ruhe.
»Artemis!«, rief sie. Vielleicht hörte die Göttin sie und erbarmte sich ihrer, wenn sie nur laut genug rief. »Artemis! Hüterin der Jungfrauen! Hilf mir! Sie wollen mich stehlen!« Aber Artemis antwortete nicht. Sie rief auch Athena an, aber sie wusste, dass Athena eine mächtige Göttin war, die viel mit den Angelegenheiten der Erwachsenen zu tun hatte, deshalb wunderte sie sich nicht, dass Athena nicht antwortete. Dann dachte sie an Demeter, deren eigene Tochter, Persephone, auch entführt worden war – die musste ihr helfen.
Aber auch von ihr kam keine Hilfe.
Halo war enttäuscht über das geringe Interesse der Götter.
Eine Weile starrte sie nur vor sich hin. Dann döste sie ein. Dann starrte sie wieder vor sich hin. Niemand brachte ihr etwas zu essen, aber zum Glück hatte Nimine ihr zum Abschied ein Stück Brot und ein Eckchen salzigen Käse zugesteckt, die sie als Vorrat in einer Falte ihres Umhangs verborgen hielt.
Sie starrte weiter vor sich hin, als ihr Blick auf einen langen hölzernen Gegenstand fiel, der neben dem Bett des Kapitäns lag – eine Flöte. Sie untersuchte sie und hätte am liebsten darauf gespielt, traute sich aber nicht, weil sie fürchtete, dass sofort jemand käme und es ihr verbot. Nach drei Tagen in der Küche bei Menschen hatte sie genug von Leuten, die ihr sagten, was sie tun und was sie lassen sollte.
Die Flöte war nicht besonders gut, aber es war eine Flöte. Sie drehte sie hin und her, deckte die Löcher zu und dachte an verschiedene Melodien. Und dann fing sie an zu überlegen.
Nach einer Weile hatte sie einen Plan geschmiedet. Sie überdachte ihren Plan, aß ihr Brot und den Käse und musste lächeln.
Sie wartete noch ein wenig ab, dann schrie Halo durch die Tür: »Mir ist übel!«
Als die Mannschaft sie hörte, schloss der Kapitän ihr auf. Sie folgte ihm hinauf aufs Deck und sah zum Heck hinüber. Dort, wo vorhin noch grün und verschwommen Zakynthos gelegen hatte, war nun nichts als Meer.
»Zu weit zum Zurückschwimmen, he?«, sagte der Kapitän hämisch.
Er hatte recht. Also gut, dachte sie.
»Du kannst dort drüben über den Rand kotzen. Mit dem Wind.«
Sie schwieg und ging zur Reling. Eine frische Brise wehte ihr ins Gesicht. Bei Aristides hatte sie kein einziges Mal den Hof verlassen dürfen. Sie hatte keine frische Luft atmen und weder den Himmel noch das herrliche Meer sehen können. Sie blickte in die Richtung, wo Zakynthos in blauer Ferne verschwunden war. Und sie schaute nach vorn, zum näher kommenden griechischen Festland. Das muss die Elis sein oder Messenien, dachte sie. Sie war sich nicht sicher.
Sie waren ungefähr halb so weit von der Küste entfernt, wie Zakynthos von Zephalonien entfernt war.
Das schaffe ich, dachte sie. Sie überquerte das Deck. In einer einzigen Bewegung warf sie ihren Umhang ab und hechtete beinahe lautlos über Bord. Das Wasser schloss sich glatt und kühl über ihrem Kopf.
Einer der Seeleute hatte das leise Platschen bemerkt. »Kapitän!«, schrie er.
»Dummes Mädchen!«, rief der Kapitän und spähte ins Wasser.
Er konnte nichts erkennen. Überhaupt nichts. Sie war auf Steuerbord untergetaucht, der dem Westen zugewandten Seite. Die Nachmittagssonne schien dem Kapitän direkt in die Augen und blendete ihn.
Doch dann entdeckte er etwas. »Ich hab sie«, rief er. Ein Seemann sprang ins Wasser und packte – ihren Umhang, der leer auf der Wasseroberfläche trieb.
»Wo ist sie?«, schrie der Kapitän. Die Seeleute stellten sich an die Reling und hielten Ausschau. Einige rannten auf die andere Seite, um nachzusehen, ob sie unter dem Schiff hindurchgetaucht war, andere rannten zum Heck und wieder andere zum Bug: nichts.
»Sie muss irgendwo sein«, schimpfte der Kapitän zornig.
Eine halbe Stunde lang fuhren sie im Kreis und hielten Ausschau.
Nichts.
Schließlich blies der Kapitän die Suche wütend ab und wies seine Mannschaft an, wieder auf Kurs zu gehen. Er hatte Geld und sein Gesicht verloren. Er würde Aristides für den Verlust entschädigen müssen. Er fluchte.
Unterdessen hing Halo, das Mädchen aus dem Meer, unter dem Heck und ließ sich im blau schäumenden Kielwasser mitziehen. Mit der einen Hand hielt sie sich an
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