Halo - Tochter der Freiheit
Waffenbruder. Niemand, neben dem sie kämpfen konnte, niemand, der sie beschützen, und niemand, den sie beschützen würde. Nicht dass sie unbedingt kämpfen wollte. Wenn sie unter den Sternen lag, durch grüne Wälder ging und dem Gesang der Vögel lauschte, auf einem Stück Hartkäse kaute oder sich an das wunderbar blaue Licht ihrer Meeresgrotte erinnerte, liebte sie das Leben so, wie es war. Und so sollte das Leben auch sein, nicht nur für sie, sondern für alle. Es machte sie traurig, dass man den spartanischen Jungen nichts anderes als Blut und Kampf und Tod beibrachte, dass sie einander auspeitschten, um sich gegen Schmerzen zu stählen, dass sie lachten, wenn sie andere Menschen töteten … Aber Halo war ein Mensch, und Menschen wollten nun einmal zu anderen Menschen gehören.
»Verstehst du das denn nicht?«, fragte er.
»Ich verstehe die Sache mit der Treue«, antwortete sie, »aber ich verstehe nicht, warum die Menschen einander immer angreifen.«
»Die meiste Zeit tun wir das gar nicht. Wir verteidigen einander.«
»Aber gegen wen?«, wollte sie wissen. »Es muss euch ja erst einmal jemand angreifen, oder?«
»Der Feind«, entgegnete Leonidas mit nachsichtigem Lächeln.
»Der Feind denkt wahrscheinlich, dass er sich gegen euch verteidigen muss.«
»Das ist nicht mein Problem. Ich bin Soldat, kein Staatsmann.«
Halo wusste nicht, was ein Staatsmann war oder tat. Sie wusste nur, dass Zentauren nicht kämpften. »Mit etwas Weisheit«, sagte sie, »braucht ihr keinen Tropfen Blut zu vergießen.« Sie erinnerte sich an den Ausdruck in Kyllaros’ Gesicht, als er ihr das erklärt hatte, und sie war froh, dass er nicht hatte mitansehen müssen, wie sie allen Ernstes versucht hatte, Krenas den Kopf abzureißen.
»Hör mal zu«, sagte Leonidas. »Du weißt nicht, wovon du redest. Du bist nie angegriffen worden. Du hast noch nie einen Feind zu sehen bekommen. Es gibt ein altes Sprichwort: õMein Großvater war Soldat, damit mein Vater Bauer und ich Dichter werden konnte.ã Vielleicht möchtest du gern Bauer oder Dichter werden – aber ich bin Soldat. Meine Pflicht ist es, für Sicherheit zu sorgen. Aber Sicherheit kommt nicht von allein – das ist eine Tatsache –, deshalb muss ich bereit sein, falls ich gebraucht werde. Würdest du uns nicht gern an deiner Seite haben, wenn Räuber über dein Dorf oder deine Stadt herfallen? Aber natürlich würden sie das gar nicht erst wagen, wenn sie wüssten, dass wir euch beistehen. Sie hätten zu viel Angst.«
Ihr war klar, dass er recht hatte. Und dass sie Leonidas an ihrer Seite haben wollte, mit seinen breiten Schultern, seiner Verlässlichkeit. Aber – »Ich gehöre zu keiner Seite«, sagte sie. »Ich habe kein Dorf, keine Stadt.«
»Du musst doch in irgendeinem Dorf oder einer Stadt aufgewachsen sein!«, widersprach er. »Wer bist du? Wer sind deine Eltern?«
Er blickte sie offen und nicht unfreundlich an, und zu ihrer eigenen Überraschung sagte sie ihm die Wahrheit.
»Ich weiß es nicht. Ich wurde vom Meer an Land gespült und gerettet, aber nicht von meinen eigenen Leuten. Die halten mich wahrscheinlich für tot.«
Sie hatte sich inzwischen so mit ihrer Lebensgeschichte abgefunden, dass sie sie kurz und nüchtern erzählen konnte. Als sie ihn wieder anschaute, stellte sie erstaunt fest, dass er milde und freundlich zu ihr heruntersah.
»Wusste ich nicht«, sagte er.
»Ich habe mich damit abgefunden.«
»Nun, dann wird es besser sein, wenn du dir das wieder abgewöhnst«, sagte er barsch. »Damit darfst du dich nicht einfach abfinden! Du musst versuchen, deine Eltern wiederzufinden. Aber wie kannst du das, wenn du keine Sehnsucht danach verspürst?«
Sehnsucht – nach ihren Eltern, ihrer Familie, ihren Blutsverwandten, ihrem Volk?
Sehnsucht.
Das also war das Wort, mit dem sich alles erklären ließ, was sie fühlte, alles, was sie bisher nicht verstanden hatte. Sie war sehnsüchtig nach ihnen. Verzweifelt sehnsüchtig.
»Aber wer hat dich aufgezogen?«, fragte er weiter.
»Freundliche Leute, auf dem Land.«
»In Friedenszeiten wahrscheinlich.« Er nickte. »Bauern und Dichter.«
»In Friedenszeiten«, stimmte sie zu.
»Wie schön für dich. Aber jetzt bist du kein Kind mehr. Und ein Friede dauert nicht ewig. Du musst endlich erfahren, wer du bist.«
»Ich werde das Orakel von Delphi befragen«, sagte sie plötzlich. Eigentlich hatte sie es als Scherz gemeint, aber noch während ihr die Worte über die Lippen kamen, dachte sie: Warum
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