Halo - Tochter der Freiheit
die Augen und genoss das Gefühl, die Sonne auf der Haut zu spüren und Salz auf den Lippen zu schmecken. Sie atmete tief ein; in den Geruch von Salz und Fisch und Netzen und Teer mischte sich der zarte Duft von Meerlilien. Halo hielt die Luft in der Lunge, und als sie endlich ausatmen musste, brannten ihre Augen, und eine Träne lief ihr über die Wange – eine Träne der Freude über die Liebe, die sie für ihre Familie auf Zakynthos empfand, aber auch eine Träne der Einsamkeit, weil sie so weit von ihr entfernt war – und von dem anderen. Dem anderen, das sie brauchte.
Vor ihr lag Delphi, der Mittelpunkt zwischen Ost und West, das Zentrum der Welt und des ganzen Universums. Sogar die Sterne und die himmlischen Gestirne kreisten um Delphi, wo geheimnisvolle Dämpfe und Nebel aufwallten und der Orakelpriesterin Pythia die Worte des Gottes Apollon eingaben.
Und wie Tausende Menschen vor und nach ihr hoffte auch Halo, dort die Antwort auf ihre Frage zu erfahren.
Als sie von der Fähre gingen, drang sofort all der Lärm von der Geschäftigkeit des Hafens auf sie ein. Halo lachte froh angesichts des bunten Treibens. Sie sah große hellhäutige Menschen aus dem Norden und von der Sonne tief gebräunte Bewohner des Südens, sie sah dicke und dünne Gestalten, kranke und arme Menschen, und dazwischen viele muskulöse Mietruderer, die ihre Ruder und Sitzkissen immer mit sich trugen. Ein Mann mit einem verkümmerten Bein stieg mühsam den staubigen, gewundenen Weg durch die terrassenartig angelegten, silbern glänzenden Olivenhaine zum Heiligtum hinauf. Sie sah ein Mädchen, das einen weißen Esel an einer Leine führte, und sie sah reiche Kaufleute in feinen Gewändern, die vom Orakel etwas über das Gelingen ihrer Geschäfte erfahren wollten.
Als sie in die kleine Stadt hineinkamen, sah Halo die Stände der Lebensmittelhändler, an denen man scharf riechende kleine Fische oder duftenden Honigkuchen kaufen konnte. Struppige, verwahrloste Straßenköter versuchten, sich mit Essensresten davonzustehlen. Fröhliche Straßenhändler bedrängten die Pilger, um ihnen Glücksbringer und Amulette anzudrehen, und riefen immer wieder: »He, guter Herr, das Amulett bringt dir viel Glück, es bewahrt dich vor Krankheit und Unglück und bringt dir Liebe und Reichtum, sehr billig, sehr gut!«
Halo lachte. Sie wusste, dass jeder Mensch den Schutz der Götter brauchte, aber sie wusste auch, dass ein Stückchen Metall niemanden glücklich oder reich oder gesund machen konnte. Obwohl … sie berührte die kleine Eule, die sie um den Hals trug. Manchmal schien es ihr, als ob die Eule sie beschützte.
Sie hatte Mühe, mit den drei Männern Schritt zu halten, denn die marschierten durch die Stadt, wie Spartaner eben marschierten: schnell und mit weit ausgreifenden Schritten und entschlossenem, aber gelassenem Blick, fest darauf vertrauend, dass ihnen jeder sofort aus dem Weg ging. Und genau das taten die Passanten auch, sobald sie Melesippos’ scharlachroten und Leonidas’ schwarzen Umgang erblickten. Pilger, Priester und Poeten – alle machten eilig Platz, als die Spartaner herankamen.
Sie marschierten direkt zu der Unterkunft, in der die Spartaner immer übernachteten, um sich dort auf den nächsten Tag, den 7. März, vorzubereiten. Das Orakel sprach stets nur am siebten Tag des Monats, und auch dann nur, wenn die Vorzeichen gut waren. Obendrein konnte man nicht sicher sein, dass man tatsächlich in den Tempel vorgelassen würde – die Reihenfolge wurde ausgelost.
Am nächsten Morgen streiften sich alle frische Kleidung über, obwohl die Spartaner das für Luxus hielten. Als sie ihre Herberge verließen, verblassten die Sterne gerade, und sie atmeten die frische Luft des neuen Morgens. Links ragte der silbergrüne Hang des Berges Parnass in die Höhe, davor die zwei großen Steilfelsen der Phädriaden, der »Leuchtenden«. Auf der rechten Seite fiel der Berg in eine terrassenförmige Schlucht ab, und jenseits des noch halbdunklen Tals erstreckte sich der lange Berg Kirphis.
Bevor sie jedoch das Apollon-Heiligtum betreten durften, mussten sie sich in der Kastalischen Quelle reinigen, die ein Stück weit unterhalb lag. Sie entsprang in einer wilden Schlucht einem behauenen Fels, aber es gab ein Brunnenhaus, in dem das Wasser gesammelt wurde. An seiner Nordwand sprudelte es aus vier nebeneinanderliegenden Löwenköpfen. Als Halo und die Spartaner ankamen, waren bereits viele Pilger dabei, sich zu waschen, nun nüchtern und sehr
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