Halo - Tochter der Freiheit
viel stiller als am Abend zuvor.
Melesippos, Leonidas und Mantiklas gingen gemeinsam zu dem Brunnenhaus. Halo, die immer noch an Leonidas gekettet war, folgte ihm. Wie fühlt es sich an, wenn man sich für Apollon reinigt? , fragte sie sich. Würde sie es in ihrem Körper spüren oder in ihrer Seele fühlen können? Sie atmete tief ein, sprach mit dem Gott, wie sie es so oft schon getan hatte, und hielt den Kopf unter das sprudelnde Wasser.
Es war eiskalt! Rasch zog sie den Kopf wieder zurück und schüttelte ihn wie ein Hund. Dann trank sie. Wie wunderbar das schmeckte! Süß und rein. Selbst das Quellwasser im Taygetos-Gebirge hatte nicht so gut geschmeckt, nicht einmal dann, wenn sie zwei Tage lang ohne Wasser hatte auskommen müssen.
Leonidas beobachtete sie belustigt. »Du willst es also tatsächlich tun?«, fragte er.
»Ja, eigentlich schon«, antwortete sie. »Nur gibt es da ein kleines Problem – ich bin an dich gekettet.« Sie schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln.
Er lachte und schüttelte den Kopf. »Wie soll ich Melesippos klarmachen, dass ich dir die Fesseln abnehmen muss, weil du mit Apollon reden willst?«
»Dir wird schon etwas einfallen«, sagte sie hoffnungsvoll. Dir muss etwas einfallen , dachte sie. Du willst mich doch nicht davon abbringen, oder? Schließlich habe ich dir mein Geheimnis anvertraut!
Nachdem sie aufgebrochen waren und der Weg eine Biegung machte, erblickte Halo es endlich: das prächtige Heiligtum des Apollon, das sich auf dem terrassenförmigen Abhang im blassen Licht der frühen Morgensonne erhob – lange Reihen von Marmorsäulen und Statuen in Gold und Bronze, seltsame Gestalten, die man aus Stein gehauen hatte, und dazwischen mächtige, geheimnisvolle Felsbrocken. Sie betraten die Heilige Straße, und Halo staunte über die unzähligen Tempel, an denen sie vorübergingen. Bei manchen stützten steinerne Jungfrauen mit den Köpfen die Giebeldreiecke. Eine geflügelte Sphinx thronte auf einer Säule – Halo hatte noch nie eine so hohe Säule gesehen! Auf den Absätzen breiter Treppen blühten Mandelbäume, dunkle Zypressen ragten schlank in die Höhe, und die silbergrünen Blätter von Olivenbäumen glänzten im Morgenlicht. Und überall standen Statuen von wunderschönen Knaben und Mädchen. Jede Oberfläche war mit Schriftzeichen, Heldendarstellungen oder den Abbildern von Ungeheuern und Göttern und Nymphen geschmückt, und über allem erstrahlte der große Tempel des Apollon, dessen riesige Säulen, weiß und in perfekter Ordnung aufgereiht dastanden. Davor erhob sich eine gigantische Statue von Apollon selbst – riesengroß, mit blauen Augen und goldenem Haar.
Immer mehr Menschen versammelten sich nun in losen Gruppen vor dem Tempel. Ein Junge fegte mit einem Besen aus Lorbeerzweigen und –blättern die Treppenstufen und besprengte sie mit geweihtem Wasser. Die Spartaner grüßten ihn, und er wies ihnen den Weg zur Nordseite des Tempels, wo der heilige Kassotis-Brunnen lag. Sein Wasser floss unterirdisch direkt in den Tempel, wo sich die heiligsten Kammern befanden, die Cella und das Adyton. Dort, im Adyton, lag Dionysos begraben, dort standen die beiden Adler des Zeus und der große Omphalos-Stein, der »Nabel der Welt«. Und da saß auch die Pythia auf ihrem Dreibein über dem heiligen Erdspalt, aus dem die heiligen Dämpfe aufstiegen. Ehe sie mit der Weissagung begann, trank sie von dem Wasser des Kassotis-Brunnens.
Aber natürlich durften die Pilger diese Kammer nicht betreten.
Halo atmete tief ein; in Gedanken sprach sie bereits zu Apollon. Sie hatte das letzte Stück ihres Gerstenbrots vom gestrigen Abendessen aufbewahrt, um es zusammen mit ihrer goldenen Eule als Opfer darzubringen.
Leonidas schlenderte zur Westseite des Tempels hinüber. Dort zeigte ein großer Giebelfries den Sieg der Göttin Athena über einen Riesen.
Warum behandeln sie Mädchen, als seien sie nichts wert?, fragte sich Halo. Ist Athena denn nichts? Schaut sie doch nur an!
Ein Stück weiter war noch ein Fries zu sehen, und Halo blickte neugierig hinauf. Zentauren! Einen Moment lang freute sie sich, doch dann erkannte sie die Szene – und wurde von Scham gepackt. Der Fries zeigte das Hochzeitsfest der Lapithen. Da war Eurytion zu sehen, der Hippodameia entführte. Menschen und Zentauren kämpften miteinander und schlachteten sich gegenseitig ab. Und Halo erkannte auch die Söhne des Ixion und biss sich wütend auf die die Lippe … Warum konnten sie nicht einen Fries anbringen,
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