Halo - Tochter der Freiheit
machen, aber was wird in ein paar Jahren sein … Willst du dir einen Bart wachsen lassen? Und du wirst deine Blutungen bekommen …«
»Wieso Blutungen?«, fragte Halo verwirrt.
»Ich spreche von deiner Periode«, sagte Aspasia. »Ach, wahrscheinlich ist das bei den Zentauren anders.«
Halo hätte am liebsten weggehört. Das klang alles so fraulich. Sie wollte nicht fraulich sein. Aber wie ein Mann wollte sie auch nicht werden.
Bilder huschten ihr durch den Kopf: Leonidas’ kräftiger, von Narben übersäter Rücken. Die Skythen mit ihren langen Bärten und sehnigen Muskeln. Die Spartaner mit ihren Speeren und Schwertern und den mächtigen Schilden …tiefe, raue Stimmen und der Geruch von Schweiß.
Aber sie war erst zwölf oder dreizehn … sie hatte noch viel Zeit …
»Können wir das nicht später entscheiden?«, fragte Halo. »Kann ich nicht einfach zur Schule gehen … und …?«
»Nein«, sagte Aspasia, »bei uns in Athen heiraten die Mädchen mit fünfzehn.«
»Bis dahin habe ich noch zwei Jahre«, bettelte Halo, »noch so viel Zeit.«
»So, so, dann werden wir also in zwei Jahren vor Perikles treten und ihm sagen ›Ach, dein Adoptivsohn ist übrigens ein Mädchen?‹«, sagte Aspasia. »Nein, ich muss es ihm sagen – oder besser, du sagst es ihm. Um deiner Ehre willen. Heute Abend noch.«
Halo senkte den Kopf. »Ich werde es ihm sagen, aber sonst niemandem.«
»Nun, diese Entscheidung liegt allein bei ihm«, erwiderte Aspasia.
Halo lächelte bitter. Natürlich.
Sie wollte gerade hinausgehen und Arko suchen, als Aspasia sagte: »Übrigens. Dein Vater – weißt du eigentlich, dass er deine Geburt vermerkt und seine Familie darüber unterrichtet hatte?«
»Ja«, sagte Halo.
»Gewöhnlich geschieht das nur bei der Geburt eines Knaben.«
Natürlich.
»Er muss dich sehr geliebt haben«, fügte Aspasia leise hinzu und sah sie an.
Diesen Satz barg Halo von nun an tief in ihrem Herzens, und in dunklen Augenblicken ihres Lebens nahm sie ihn hervor und liebkoste ihn.
An diesem Nachmittag besprach sie sich mit Arko. Sie erwogen das Für und Wider und fanden doch keine Antwort. Sie befanden sich auf der Straße nach Kerameikos, dem Friedhof vor den Toren der Stadt. Das Tor wurde von Gyges, dem Skythen, bewacht. Er prüfte ihren Passierschein – »nur Friedhof« – und winkte sie durch. Sein großer Hund lag im Schatten und sah ihnen sabbernd nach.
»Lassen wir das Thema jetzt«, sagte Arko, denn sie waren aus einem bestimmten Grund hierhergekommen.
Der Friedhofswärter zeigte ihnen den Peribolos der Alkmenoiden: ein von einer verzierten Steinmauer eingefasstes Rasenstück. Tafeln trugen die Namen derer, die dort begraben waren. Sie entdeckte mehrere mit dem Namen Megakles. Die ihres Vaters war leicht zu finden. Auf ihr stand nur:
ΧΑΙΡΕ ΜΕΓΑΚΛΕΙΣ
Lebe wohl, Megakles
Lange stand Halo davor und sah die Gedenktafel an. Unwillkürlich musste sie an im kalten Meer treibende Leiber denken, die von Schaumwellen auf- und niedergeworfen wurden. Sie dachte daran, wie sie selbst als winziger Säugling in einer hölzernen Wiege, wie in einem Schildkrötenpanzer geschützt, am Strand von Zakynthos angeschwemmt worden war. Und wie sie Jahre später von einem zakynthischen Schiff gesprungen war, sich an das Heck geklammert hatte und dann über das Meer geschwommen war, das sie schließlich an das Ufer der Mani spülte. Sie dachte daran, wie ihr Körper, als er leblos in dem See in Lakedaimon getrieben hatte, von Leonidas herausgezogen worden war. Und sie dachte daran, wie sie sich im eiskalten Wasser der unterirdischen Höhle verirrt hatte. Aber sie war nie ertrunken.
Der Name ihrer Mutter stand natürlich nicht auf der Tafel. Halo zeichnete mit dem Finger die Buchstaben unter den Namen ihres Vaters:
ΑΙΕΛΛΑ
Aiella
Es war noch genug Platz dafür. Sie wollte Perikles bitten, dass er einen Steinmetz den Namen eingravieren ließ.
Aber konnte sie Perikles überhaupt noch um etwas bitten, wo sie ihm doch gestehen musste, dass sie ihn angelogen hatte?
Sie legte ein Bund Wildsellerie am Fuß der Steinmauer nieder und stellte ein Fläschchen Öl daneben, die traditionelle Trauergabe. Dann saß sie den ganzen Nachmittag über neben der Gedenktafel und weinte um ihre Eltern, weil sie tot waren und weil Halo keinerlei Erinnerung an sie hatte. Arko saß neben ihr und sorgte dafür, dass sie nicht gestört wurde.
Danach fühlte sie sich stark genug und bereit, Perikles mit
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