Halo - Tochter der Freiheit
Ziegen durch ihre Ohren atmen? Oder willst du lernen, wie man herausfindet, ob eine Krankheit aus der Luft kommt oder in der Person selbst liegt? Oder willst du das Wesen der menschlichen Seele studieren?«
Seine Miene war völlig ernst.
Halo sah ihn an und musste mit vollem Kuchenmund lachen. »Ja, bitte«, sagte sie.
Seine Augen leuchteten auf. »Nun gut«, wiederholte er freundlich. »Und weißt du schon irgendetwas?«
Halo schluckte und leckte sich über die Lippen.
»Ich kann einen Arm einrenken. Also, ich habe das noch nie gemacht, aber ich weiß, wie es geht, und ich kann eine Eiterwunde säubern und vielleicht auch eine Wunde nähen … Ich weiß, dass wenn viele Menschen dieselbe Krankheit bekommen, diese Krankheit in der Luft ist oder vielleicht in der Nahrung, zum Beispiel wenn sie verdorbenes Fleisch gegessen haben – aber wenn nur einer krank wird, liegt die Krankheit in der Person selbst – oder in der Reaktion der Person auf die Luft oder das Essen, wie bei den Leuten, die einen Ausschlag bekommen, wenn sie Nüsse essen …«
Hippias sah sie lächelnd an. »Und was weißt du nicht?«
»Ich weiß nicht … ich weiß so vieles nicht! Wie man die Knochen der Beine auseinanderzieht, damit sie wieder richtig zusammenwachsen. Wie Säuglinge in den Bauch der Mutter kommen … Wie man einen Ohnmächtigen wieder zu Bewusstsein bringt … Wie man Leute heilt …«
Er erhob die Hand, und sie verstummte. »Und was willst du mit deinem Wissen anfangen?«, fragte er.
»Menschen helfen«, sagte sie. »Und Tieren.«
»Dann werde ich dich nehmen«, sagte Hippias. »Beobachte, was ich mit meinen Patienten mache, und höre genau zu. Du musst alles, was ich tue und sage, aufsaugen wie ein trockener Schwamm. Sei allem gegenüber aufgeschlossen. Und du musst lesen – am besten du fängst mit Alkmaion an. Obwohl ich bezüglich der Ziegen anderer Meinung bin als er. Und was das Beinstrecken anbetrifft, kommst du am besten gleich mit …«
Zehn Minuten später kurbelte Halo an einer schweren Winde, an der breite Ledergurte befestigt waren, die wiederum um Knöchel und Knie eines armen Bauarbeiters geschlungen waren, der vom Gerüst gefallen und sich den Oberschenkel gebrochen hatte.
Der Mann selbst war an einen auf den Fußboden genagelten Stuhl gefesselt. Schon bevor sie mit dem Strecken und Ausrichten des Beins begann, heulte er erbärmlich vor Schmerzen. Wie Cheiron, als er Jahre zuvor ihren Arm gerichtet hatte, erklärte Hippias, was er tat.
»Zieh stärker!«, rief er. »So stark du kannst! Wir wollen doch nicht, dass er auf einem verkürzten Bein hinken muss. Du kannst gar nicht stark genug ziehen. Er muss jetzt ein bisschen Schmerzen aushalten, und die Knochen sitzen gerade und wachsen wie neu zusammen. Nur keine Angst …«
Wie vor vielen Jahren biss Halo die Zähne zusammen und erlaubte dem Schmerz nicht, die notwendigen Handgriffe zu verhindern.
Hippias drückte den gebrochenen Knochen wieder in Position.
Der Mann brüllte vor Schmerzen.
Für Halo war es jedoch viel leichter zu ertragen, da es nicht ihre eigenen Schmerzen waren.
An diesem Abend sagte Arko: »Wir können nichts Unmögliches vollbringen. Also können wir noch nicht nach Thessalien aufbrechen. Du gibst dir schließlich alle Mühe, Perikles dein Geheimnis zu beichten. Mehr können wir nicht tun.«
»Ich könnte ihm schreiben«, schlug Halo vor.
Arko dachte eine Weile nach und sagte dann: »Halo, gib es zu – du möchtest eigentlich gar nicht, dass er es weiß.«
»Nein …«
»Dann schreib ihm auch nicht. Lass es darauf ankommen.«
Das war ein sehr verführerischer Gedanke.
ΚΑΠΙΤΕΛ 23
Arko bekannte freimütig, dass er für die Heilkunst kein Talent besäße und auch kein Interesse. Er ging also nicht mit zu Hippias – außerdem hätten die Patienten bei seinem Anblick womöglich geglaubt, sie litten unter Halluzinationen. Stattdessen ging er nachmittags zum Sportunterricht. Nach einigen Stunden mit den Jungen musste er das allerdings aufgeben, denn er gewann sämtliche Rennen, und es gab Ärger, weil er beim Ringen unabsichtlich mit den Füßen um sich trat.
Ein Fach, in dem Halo und Arko hingegen gemeinsam unterrichtet werden sollten, war das Bogenschießen.
Doch als sie am Übungsplatz der Bogenschützen ankamen, trafen sie dort keine Jungen aus Athen, sondern nur ein paar Fremde und Staatssklaven.
Der Lehrer war ein gelangweilt aussehender Kreter. Neben ihm saß ein noch gelangweilter wirkender Skythe,
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